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Freie Arbeiten [Romane]

Jonathan und das alte Steckenpferd
Ein Kinder-Abenteuer-Roman

Für junge und im Herzen Kind-gebliebene Menschen von 7 - 107 Jahren

Der "Jonathan" ist ein Herzensprojekt, das zum Dauerprojekt mit vielen Unterbrechungen geworden ist, das mich immer wieder beschäftigt hat — und das darüber hinaus seine ganz eigene Dynamik entwickelte. Immer wieder habe ich das Buch, das Manuskript, bearbeitet, überarbeitet und dabei inhaltliche Verfeinerungen und stilistische Feinschliffs vorgenommen. Dann ergab sich für mich die Möglichkeit, eine kleine Lesung innerhalb eines bunten KünstlerInnen-Abends zu geben. Kurze Auszüge aus dem "Jonathan" sollten es sein. Hierbei wollte ich eigene musikalische Sequenzen und Klänge dazu geben. Das geschah, und so gab ich meine erste musikalische Lesung. Das Ganze hat sich dann noch weiter entwickelt, als ich eine Einladung erhielt, einen künstlerischen Abend solistisch - mit dem "Jonathan" — als musikalische Lesung/Performance zu gestalten. Denn dann kamen noch weitere Musikstücke, Sounds, Collagen und Assemblagen dazu...

Menajah-Assemblage
"Menajah"-Assemblage für den Kinder-Abenteur-Roman "Jonathan und das alte Steckenpferd". Menajah ist der Name des geheimnisvollen Steckenpferdes, dem ein besonderer Zauber innewohnt.
Diese Arbeit entstand am 4. März 2014 und war eine "Assemblage auf Zeit" – sie hat nur wenige Stunden existiert. Danach wurde sie von mir wieder aufgelöst -  aufgrund des Steckenpferdes, das wieder an seinen Platz wollte. Was blieb, ist das Bild.
...und das Steckenpferd.
Zwei musikalische Lesungen gab es mit dem "Jonathan". Die erste, eine kurze zwanzigminütige 2013, in der Galerie "Lortzing ART" von Künstlerin Inge-Rose Lippok (Hannover) und die zweite, eine abendfüllende 2014, im "Lister Salon" (Hannover) von Ehepaar Darlén Bakke (Musikprofessorin) und Peter Rautmann (Kunstprofessor).

Die musikalische Performance beinhaltete eigene Musikstücke, musikalische Miniaturen, Geräusche und Klänge. Im "Lister Salon" konnte ich zudem meinen 16-teiligen, teils großformatigen Collagen-Assemblagen-Zyklus zum "Jonathan" zeigen, der mittlerweile entstanden war.

Jonathan – 1. Auszug

1. Kapitel

Ein Sonntag im Sommer 1930

Es war Mittag. Familie Georgensen saß im sonnendurchfluteten Esszimmer um den großen Nußholztisch herum. Draußen war es ruhig, die Mittagshitze lähmte alles. Selbst die Vögel waren verstummt und dösten im Schatten. Auch am Tisch redete niemand. Nur das gleichmäßige Ticken der alten Uhr auf dem Buffetschrank und die Geräusche des Essbestecks auf den Porzellantellern waren zu hören. Plötzlich wurde die Ruhe durch kräftiges Wiehern und kurzes Hufegetrappel unterbrochen. Überrascht horchten alle auf und hielten für einen Moment inne.
„Besucht uns da jemand zu Pferde?“, fragte Herr Georgensen in die Runde und zog seine linke Augenbraue hoch.„Ich glaube, das kam nicht von draußen, sondern eher von oben.“, vermutete Frau Georgensen.

„Vielleicht vom Dachboden?“, meinte Friedrich, der mit acht Jahren jüngste Sproß der Familie.

„Ach, nicht mal am Sonntag hat man seine Ruhe.“, stöhnte Herr Georgensen, wischte sich den Mund mit der Servierte ab und stand auf, um der Ursache der Geräusche auf den Grund zu gehen. Nachdem er zunächst die Haustür geöffnet hatte und vor dem Haus nichts Besonderes entdecken konnte, begab er sich in die obere Etage und anschließend auf den Dachboden. Als er wieder ins Esszimmer zurückkehrte, hielt er ein Steckenpferd in der Hand.

„Und, Wilhelm, konntest du feststellen, woher die Geräusche kamen?“, fragte Frau Georgensen ihren Mann.

„Nein. Nur, auf dem Dachboden lag ‘das’ hier mitten im Weg.“, antwortete er seiner Frau. Und zu seinen Kindern sprach er: „Wenn ihr schon auf dem Dachboden spielen müsst, dann räumt danach wenigstens eure Spielsachen beiseite.“

„Ja, Vater.“, antworteten Friedrich und seine beiden älteren Schwestern gleichzeitig, worauf sie sich gegenseitig ratlos und schulterzuckend ansahen. Denn jeder von ihnen fragte sich, woher dieses Steckenpferd mit einmal Mal herkam. Sicher war, ihnen gehörte es nicht.

„So, Herrschaften, lasst uns weiteressen!“, sagte Herr Georgensen, stellte das Steckenpferd in die Zimmerecke beim Buffetschrank ab und nahm wieder am Tisch Platz. „Schließlich wollen wir ja bald zum Pudding kommen. Habe ich recht?“, fügte er noch schelmisch hinzu, und alle mussten lachen.

Nach dem Mittagessen redeten die Geschwister über das Vorkommnis.

„Von uns hat doch niemand solch ein Steckenpferd.“, sagte Marie, die älteste Schwester. Die beiden anderen nickten zustimmend. „Aber wie kommt es dann so plötzlich auf unseren Dachboden?“, fragte sie weiter.

„Keine Ahnung.“, antwortete Luise, die jüngere Schwester, stirnrunzelnd.

„Mir gehört es auch nicht. Aber ich finde es sehr schön.“, sagte Friedrich.

Für einen kurzen Moment schwiegen die drei.

„Na, dann behalt es doch, wenn es dir so gut gefällt.“, schlug Marie vor.

„Ja, genau. Wahrscheinlich vermisst es auch niemand. Außerdem lag es auf unserem Dachboden. Und Marie und ich sind aus dem Alter raus, um mit einem hölzernen Steckenpferd durch die Gegend zu hüpfen.“, sagte Luise überzeugt.

„Na gut, dann gehört es von nun an mir.“

Und so behielt Friedrich das hölzerne Steckenpferd, das eines Sonntags ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, aufgetaucht war.

Später, als er damit nicht mehr spielte, hob er es auf und legte es in eine große Holzkiste, in der er die Sachen aus seiner Kinderzeit verwahrte. All dies ereignete sich vor vielen Jahren.

2. Kapitel

68 Jahre später - Bei den Großeltern

Es war der sechsundzwanzigste Dezember, und in der vorangegangenen Nacht hatte es geschneit. Alles war angezuckert und hatte eine kalte, weiße Decke übergelegt bekommen. Wenn sich die Sonne zeigte, glitzerte und leuchtete alles. Die Geräusche draußen waren gedämpft.

Der zehnjährige Jonathan, der zusammen mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester die Weihnachtsferien bei den Großeltern väterlicherseits auf dem Land verbrachte, langweilte sich an diesem Mittag. Er wusste einfach nichts mit sich anzufangen. Ihm fiel aber auch gar nichts ein, was er machen könnte.

Träge saß er an dem schmalen Tisch in dem kleinen Zimmer, das er immer ganz allein bewohnen durfte, wenn er bei den Großeltern zu Besuch war. Er schaute durch das Dachfenster. Der Himmel sah jetzt trostlos aus. Die Sonne, die am Morgen noch geschienen hatte, war verschwunden. Eine dicke graue Wolke nach der anderen zog vorbei.

„Hätte ich bloß meinen Computer mit den Spielen hier.“, murmelte Jonathan vor sich hin.
Auf den musste er aber die nächsten Tage verzichten. Seine Eltern wollten es so. Und zwar so lange, wie er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Lea bei den Großeltern zu Besuch war. Zwar las er auch ganz gerne ein Buch oder Comics, doch seit längerem faszinierten ihn Computerspiele. Kein Wunder also, daß er mit ihnen viel Zeit verbrachte, solange es seine Eltern erlaubten, und sie nun umso mehr vermisste. Manchmal spielte er die Spiele auch zusammen mit Ralf oder auch mit Ulf, zwei seiner Schulfreunde, aber meistens war er dabei doch allein. Überhaupt war Jonathan gern allein. Er war ein ruhiger und zurückhaltender, ja, ein schüchterner Junge, der eher wenig sprach und viel Zeit für sich selbst brauchte. Aus diesem Grunde war er auch nicht gerade unternehmungslustig. Daher war er auch selten draußen beim Spielen anzutreffen. Eigentlich, so kann man sagen, war Jonathan ein Stubenhocker.

Wie dem auch sei. Noch immer grübelte Jonathan herum, was er machen könnte. Aber ihm fiel nichts Gescheites ein. Selbst zum Lesen seines mitgebrachten Tierbuches hatte er nicht die geringste Lust. Außerdem fröstelte er etwas, trotz seines warmen Pullovers und seiner Turnschuhe. Schließlich beschloss er nach unten zu gehen, um zu schauen, was die anderen Familienmitglieder so taten. …
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Jonathan – 2. Auszug

…Plötzlich befand er sich inmitten eines tobenden Unwetters. Der Sturmregen prasselte mit aller Wucht vom dunkelgrauen bis pechschwarzen Himmel herunter, und der orkanartige, bedrohlich heulende und pfeifende Wind peitschte das kalte Nass in heftigen, unberechenbaren Böen hin und her. Jonathan hielt sich fest an Menajah. Aber ehe er sich richtig umsehen konnte, um festzustellen, wo er gelandet war, da erwischte ihn eine riesige Welle, riss ihm den Boden unter den Füßen weg und zog ihn unter Wasser. Wieder wurde er wild herumgewirbelt, doch zerrten nun tosende Wassermassen an ihm. Er schluckte jede Menge Wasser und versuchte nach Luft zu schnappen, aber es gelang ihm nicht, weil er noch immer im Wasser untergetaucht war. Überall nur Wasser. Aufgewühltes, salziges, kaltes Wasser, das ihn wie einen Spielball hin und her wirbelte und das scheinbar kein Oben und kein Unten besaß. Verzweifelt versuchte Jonathan an die Oberfläche zu gelangen, strampelte mit den Beinen, ruderte mit seinem linken Arm, während er mit der rechten Hand Menjah kräftig festhielt. Er brauchte endlich Luft zum Atmen, doch er war wie begraben von diesen lebensbedrohlichen nassen Massen. Kurz bevor er über Bord gespült zu werden drohte, packte ihn plötzlich eine starke Hand, fischte ihn aus dem Wasser und hob ihn samt Steckenpferd in die Höhe.„Was ist das denn?“, sagte eine rauhe Männerstimme verwundert.
Jonathan, triefend nass, spuckte jede Menge Wasser aus und hustete fürchterlich. Als er sich etwas gefasst hatte, vernahm er wieder die heulenden und pfeifenden Sturmwinde. Dazu kamen jetzt die Geräusche der aufklatschenden und spritzenden Gischten, der ächzenden Masten und der knarrenden und stöhnenden Planken sowie gebrüllte Kommandos. Er hustete noch einmal kräftig, um das restliche Wasser aus seinen Lungen herauszupressen. Dann erst öffnete er seine Augen und erschrak. Er blickte in ein zernarbtes, einäugiges, grobschlächtiges Gesicht.

„He, he, he, ...“, schrie die rauhe Männerstimme Richtung Kommandobrücke. „Ein kleiner Junge mit ‘nem Holzpferd. Ich faß’ es nicht. Schickt uns der Klabautermann nun Kinder zur Verstärkung?“

Der Sturm pfiff höllisch, und der kalte Regen peitschte beiden ins Gesicht.

„Heh, Käpt’n. Ich hab’ da ‘was Interessantes aufgefangen.“

„Verdammt, Reckless, komm’ her, wenn du was willst!“, schrie der Kapitän von der Kommandobrücke zurück.

Der einäugige Bootsmann mit der Augenklappe, der Jonathan noch immer festhielt, setzte ihn auf die glatten Planken ab und grummelte mürrisch unverständliches Zeug. Kaum später brach erneut eine mächtige Welle über das stark schwankende Schiff herein, die alle Decks überflutete. Doch der kräftige Bootsmann hatte Jonathan fest im Griff. Dann waren Schreie und Rufe zu hören, die allerdings gleich wieder von dem heulenden Sturm und dem peitschenden Regen übertönt wurden.

Langsam, sich gegen den Sturm stemmend, schleppte der Bootsmann Jonathan in Richtung Kommandobrücke. Immer wieder erwischte sie eine gehörige Gischt. Jonathan fror, bibberte und zitterte vor Kälte, und seine Augen brannten vom Salzwasser. Außerdem fühlte er sich völlig erschöpft. Trotzdem hielt er Menajah krampfhaft mit eiskalten Händen fest an sich gedrückt. Denn er wusste, er darf das alte Steckenpferd auf keinen Fall verlieren.

Schließlich erreichten sie die Brücke und standen vor dem Kapitän, der sich beim Rudergänger aufhielt und den Kurs überprüfte. Der Bootsmann hielt Jonathan weiterhin fest, damit er nicht über Bord gespült werden konnte.

„Mehr Steuerbord, du verfluchter Bastard! Merkst du nicht, daß wir vom Kurs abkommen?“, schrie der Kapitän den Rudergänger an, schubste ihn beiseite, ergriff hastig das große Steuerrad und drehte es mit viel Kraft in die richtige Position.

„Los, übernimm wieder. Verdammt, Stevens, wenn du noch ‘mal Mist baust, verbringst du die Nacht im Mastkorb! Verstanden?“

„Aye, aye, Käpt’n.“, antwortete Stevens mit erschrockenem Gesichtsausdruck.

„Verdammt, Reckless! Was ist das?“, fragte der Kapitän ziemlich sauer, während er mit seinem Zeigefinger direkt auf Jonathan zielte. Dabei schaute er so grimmig, daß Jonathan ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

„Das ist ein Junge, Käpt’n!“

„Und was hat dieser Zwerg an Bord meines Schiffes zu suchen?“

„Keine Ahnung, Käpt’n. Er war auf einmal da. Ich hab’ ihn zufällig gesehen. Einen Moment später und er wäre über Bord gegangen.“

Der Kapitän sagte nichts, sondern musterte Jonathan von oben bis unten mit zusammengekniffenen Augen. Jonathan schlotterte nun nicht mehr nur vor Kälte, sondern auch vor Unbehagen. Denn er fühlte sich überhaupt nicht wohl zwischen diesen groben Kerlen, diesen finsteren Gestalten, mit ihren unheimlich verwegenen, düsteren Blicken. Vertrauenserweckend wirkte keiner der Männer, besonders der Kapitän nicht. Vor ihm schienen die Männer sehr viel Respekt, wenn nicht gar Angst zu haben.

„Wie ist dein Name?“, fragte der Kapitän im Kommandoton.

„Jonathan.“, antwortete Jonathan leise.

„Verdammt! Sprich lauter! Ich kann dich nicht verstehen!“

„Jonathan.“, sagte Jonathan nun lauter und hielt dabei Menajah noch fester an sich gedrückt.

„Wie bist du hierher gekommen?“

„Weiß ich nicht.“, antwortete Jonathan eingeschüchtert.

Da griff der Kapitän an Jonathans linkes Ohrläppchen und zog rabiat daran herum.

„Aua! Aua!“, schrie Jonathan laut auf und ließ dabei Menajah vor Schreck und Schmerz auf die Planken fallen. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Der Kapitän ließ los.

„Halt’ mich nicht zum Narren, du Wurm. Ich habe keine Lust, meine kostbare Zeit mit einem Bengel wie dir zu vergeuden. Also rede oder ich lass dich über Bord werfen!“

„Ich weiß es wirklich nicht. Bitte glauben Sie mir.“

Auch wenn ihm der Kapitän weh tat, so war für Jonathan klar, dass er niemandem von Menajahs Zauberkraft erzählen durfte. Täte er das, so würden sie ihm das Steckenpferd sofort wegnehmen und er würde nie mehr nach Hause zurückkehren können.

Der Kapitän zog jetzt heftig an Jonathans anderem Ohrläppchen herum, als ein ordentlicher Brecher über das Schiff lief und alles, bis auf die erhöhte Kommando-Brücke, unter Wasser setzte.

„Aua! Aua! Aufhören!“, flehte Jonathan unter weiteren Tränen.

Durch die erneute Schräglage, in die das Schiff geriet, rutschte Menajah auf den glatten Planken von Jonathan weg und schlug hart gegen die Reling.

„Menajah!“, schrie Jonathan vor Schreck auf.

„Heh, Junge, was redest du da?“, fragte Reckless, der mit seinem unrasierten, einäugigen Gesicht ganz nah an Jonathans Gesicht herangekommen war. „Hör’ zu, der Käpt’n versteht keinen Spaß. Spuck’s aus. Wie bist du auf‘s Schiff gekommen?“

„Ich hab’s doch schon gesagt. Ich weiß es selbst nicht.“, beteuerte Jonathan weinend, dabei fühlte er sich wie ein Häufchen Elend.

Endlich ließ der Kapitän Jonathans Ohrläppchen los. Er wendete sich ab, kontrollierte den Kompass und schaute seinen Rudergänger an, der daraufhin unsicher wurde. Jonathan schaute sorgenvoll zu Menajah und sah, wie das Steckenpferd weitergerutscht und einer Lücke in der Reling gefährlich nahe gekommen war. Der Kapitän drehte sich wieder zu Jonathan um. Reckless fragte mit fester Stimme:

„Was machen wir denn nun mit dem Kleinen, Käpt’n?“

„Schmeiss’ die Wanze über Bord.“

Als Jonathan das hörte, wurde er ganz bleich im Gesicht.

„Äh, Käpt´n, vielleicht können wir doch ‘was mit dem Jungen anfangen.“, gab der Bootsmann zu bedenken.

„Verdammt, Reckless. Ich hab’ dir gesagt, du sollst diese mickrige Portion über Bord werfen! Und das lächerliche Holzpferd gleich hinterher!“

Jonathan war starr vor Angst. Aber selbst wenn er es nicht gewesen wäre, an Menajah konnte er nicht herankommen, der Bootsmann hatte ihn nach wie vor fest im Griff.

„Aber, Käpt’n, er kann doch dem Smutje helfen. Seit der seinen Arm angebrochen hat, müssen wir immer so lange auf ‘s Essen warten.“, hakte Reckless nach. Jonathan schöpfte wieder Hoffnung.

Der Kapitän überlegte einen Moment. Dann griff er sich blitzschnell Jonathans kalte Hände, betrachtete sie kurz und sprach verächtlich:

„Verdammt, Reckless, sieh her! Das ist ein Muttersöhnchen. Seine Hände haben noch nie gearbeitet. Der taugt nichts, höchstens als Fischfutter.“

Er ließ Jonathans Hände los und schaute wieder zum Kompass.

„Verdammt, Stevens, du sollst diesen verfluchten Kurs halten!“

„Heh, Junge, kannst du Kartoffeln schälen?“, fragte Reckless ganz schnell, während der Kapitän mit dem Rudergänger beschäftigt war. Jonathan nickte wortlos, dabei schoss es ihm durch den Kopf, dass er dieses Schiff so schnell wie möglich wieder verlassen musste.

„Äh, Käpt’n... Der Kleine sagt, er kann Kartoffeln schälen.“

Der Kapitän erwiderte mit grimmigem Gesichtsausdruck:

„Verdammt, Reckless, es reicht mir. Von mir aus bring’ dieses Bürschchen in die verfluchte Kombüse, und dann mach’ dich endlich wieder an die Arbeit. Ich will euch beide jetzt nicht mehr auf der Brücke sehen. Ist das klar? Los, verschwindet!“

„Aye, aye, Käpt’n.“, antwortete Reckless zackig und zog Jonathan in Richtung Schiffstreppe.

„Halt, mein Holzpferd!“, schrie Jonathan.

„Okay, okay. Ich nehm’s für dich mit.“, sagte Reckless mit ruhiger Stimme. Er schleifte Jonathan zur Reling, hob Menjah auf und klemmte es sich unter den Arm. Zügig verließen sie die Kommandobrücke.

Einen Moment später rollte abermals eine mächtige Riesenwelle über die Decks, die auch wieder die komplette Kommandobrücke unter Wasser setzte. Hätte Menajah noch an der Reling gelegen, so wäre das Steckenpferd über Bord gespült worden und für immer in den reissenden Fluten verschwunden.

Die Welle hatte eine ungeheure Kraft. Sie drückte das Schiff nach unten, ließ dicke Taue reißen und einen Teil der Reling wegsplittern. Festvertäute Fässer rissen los, die wie Geschosse über die wasserüberfluteten Planken schleuderten. Einige Männer schrien kurz auf, doch so schnell wie sie zu hören waren, verstummten sie auch wieder. Dann neigte sich das Schiff stark ächzend auf die Seite und wurde von einer gegenläufigen See erwischt, so dass alles bis in den letzten Winkel erschüttert wurde. Der Sturm heulte noch stärker auf. Gleich darauf krachte es oben im Hauptmast und zwei Segel hingen in Fetzten. Plötzlich bäumte sich das Schiff jaulend auf, ragte weit aus dem Wasser heraus und knallte wieder in die nächste Welle, daß es nur so donnerte und spritze. Zum Glück gewann es sofort wieder an Stabilität, dank des Kapitäns, der das Ruder wieder übernommen hatte.

Es war schon erstaunlich, wie diese Galeone, dieses große Segelschiff aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts, sich auf dem riesigen, wildgewordenen Ozean behauptete. Wie sie erbittert Widerstand leistete gegen die entfesselten Naturgewalten, wie sie sich verbissen gegen das drohende Kentern wehrte. …
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Jonathan – 3. Auszug

Wie aber sollte es weitergehen? Jonathan war ratlos. Er wusste noch nicht einmal, in welchem Land er sich befand. Außerdem fühlte er sich hilflos. Auch, wenn er von Arali und seinen Männern sofort aufgenommen worden war und sie sich um ihn kümmerten.Wie schnell die Dinge sich doch verändern können, dachte Jonathan schwermütig und erinnerte sich daran, wie er anfangs von der Ruinenstadt mit ihrem geheimnisvollen Schatz fasziniert war. Doch seitdem Menajah verlorengegangen war, hatte Ischkara sich für ihn in einen traurigen Ort verwandelt. Ab diesem Zeitpunkt interessierte ihn der wertvolle Schatz nicht mehr.

Ohne zu Murren trug ihn das Dromedar. Selbstsicher setzte es einen Fuß vor den anderen, während es ihn ab und an aus den Augenwinkeln beobachtete. Doch darauf achtete Jonathan nicht. Denn immer wieder drehte er sich mit traurigem Gesichtsausdruck um. Ischkara, die verfallene Stadt inmitten einer riesigen Wüste, schrumpfte immer weiter zusammen. Bis sie schließlich hinter dem majestätischen Meer aus goldgelben Sanddünen verschwand..
Niedergeschlagen ließ sich Jonathan durch die Wüste schaukeln. Alles ging seinen Gang, hatte seinen Rhythmus. Plötzlich erinnerte sich Jonathan, was Arali ihm vor dem Aufbruch mitgeteilt hatte: Die Karawane würde auf ihrem Rückweg wieder einen Halt in Ischkara einlegen. Das konnte die Lösung sein. Sofort war Jonathan hellwach. Vielleicht würden Arali und seine Männer ihn bis dorthin wieder mitnehmen, wenn er sie darum bitten würde. Und vielleicht würden sie ihm ein weiteres Mal bei der Suche nach Menajah behilflich sein.

Wenn das gelänge, wenn er mit der Karawane zur Ruinenstadt zurückkehren könnte, so ging es Jonathan durch den Kopf, dann bestände die Möglichkeit Menajah vielleicht doch noch wiederzufinden. Und je länger er darüber nachdachte, um so deutlicher wurde, es gab keine andere Lösung. Ischkara war das Ziel. Doch bis er es erreichte, musste er sich gedulden. Langsam schöpfte Jonathan wieder Hoffnung.

Schritt für Schritt, dabei präzise wie ein Uhrwerk, marschierten die schwieligen Dromedar-Füße auf dem vom Wind wellenartig geformten Sand voran. Nur das leise Scheuern der festgezurrten Lasten war zu hören und ab und an das Schnaufen eines Tieres. Ansonsten war es still, da auch die Männer, die alle neben oder vor den Tieren herliefen, sich in Schweigen hüllten.

Mit stolz erhobenen Köpfen und sicheren Schritten bewegten sich die Wüstenschiffe über den unberührten Sand und überquerten eine Düne nach der anderen. Jonathan kam es vor, als ob die Erde nur aus einer einzigen Sandwüste bestehen würde. Wohin er auch blickte, nichts als Sand, Sand und nochmals Sand.

Zielstrebig zog die Karawane vorwärts, während die Hitze zunahm. Bald brannte die Sonne gnadenlos auf die Dahinziehenden. Jonathan schwitzte, Schweiß lief ihm in die Augen und am Körper herab. Bald dämmerte er nur noch vor sich hin. Denn der ewig gleiche Schrittrhythmus der Dromedare, die sich kaum verändernde Landschaft und die Untätigkeit trugen nicht dazu bei, ihn wachzuhalten.

Die Stunden vergingen, und die Karawane marschierte mit ihrem beständigen Tempo immer weiter voran ohne einen Halt einzulegen. Ab und an kam Yassir zu Jonathan gelaufen, um zu schauen, ob es ihm gutging. Dabei steckte er ihm jedesmal einige Datteln zu. Jonathan freute sich über diese kleinen Besuche. Waren sie doch eine willkommene Abwechslung im Tagesablauf, die dafür sorgte, daß er, zumindest für eine Weile, wieder wacher wurde.

Ansonsten hielt Jonathan sich wacker, obwohl er manches Mal nicht mehr wusste, in welcher Haltung er noch auf dem Sattel sitzen sollte. Fast alle Knochen taten ihm weh, und an einigen Stellen hatte er sich die Haut etwas wundgescheuert.

Die Stunden vergingen langsam, als etwas Grünes am Horizont sichtbar wurde. Jonathan war sich zuerst nicht sicher, doch das Grün blieb. Es war keine Sinnestäuschung. Vor ihnen lag, wenn auch noch weit entfernt, eine Oase. Erst in der Dämmerung erreichten sie die mit Palmen und Akazienbäumen bestandene, grüne Insel, die in die mittlerweile flacher gewordenen Sanddünen eingebettet war. Freudig wurden sie von den den Oasenbewohnern begrüßt. Es wurde gewunken, gerufen und gelacht.

Arali hatte die Karawane sicher zur Oase geführt. Nun gab er das Zeichen zum Halt. Und plötzlich war die Ruhe, die den ganzen langen Tag wie ein schweres Tuch über allem gelegen hatte, mit einem Schlag vorbei. Denn unter den Wüstenschiffen enstand ein heilloses Durcheinander. Einige Tiere hielten sofort an, während andere unbekümmert weiterliefen und die schon Stehenden anrempelten. Nicht wenige Dromedare ließen sich vor Müdigkeit auch einfach auf den Boden niedersinken, wobei sie von ihren nachfolgenden Artgenossen angestoßen oder sogar getreten wurden. All das hatte zur Folge, dass es ein Gebrülle und Gebeiße gab, bei dem viel Staub aufgewirbelt wurde. Aber so manches Tier nutzte diese Gelegenheit auch aus und zupfte unverfroren aus den Lastballen der anderen einiges von dem Futterstroh heraus, um sich eine Extramahlzeit zu verschaffen.

Jonathan bewunderte die Männer, die trotz des langen Marsches mit aller Kraft Ordnung in die Herde brachten. Und erst als alle Tiere im Halbkreis auf dem Boden lagen, versorgt und verarztet waren und das Lager für die Nacht aufgeschlagen und Ruhe eingekehrt war, und die Dorfältesten begrüßt wurden, konnte Arali sich bei Jonathan nach seinem Befinden erkundigen.

„Wie geht es dir, Junge?“

„Mir tut alles weh.“

„Nicht so schlimm. Das gibt sich mit der Zeit.“

„Warum haben wir denn keine Pause gemacht?“

„Du hast gesehen, wie schwierig es ist eine Dromedar-Karawane zu stoppen. Dromedare kommen nie gleichzeitig zum Stehen. Das läßt sich nicht ändern. Und, du erinnerst dich an heute morgen, wie lange es dauert, sie in Bewegung zu setzten, besonders wenn sie schwer beladen sind. Das alles kostet Zeit, vor allem aber Kraft. Und in der Wüste, wo jede noch so kleine Anstrengung Wasser kostet, muss man mit seinen Kräften haushalten. So ist es für uns besser, vierzehn bis sechzehn Stunden durchzumarschieren, da wir bei jedem zusätzlichen Halt nicht nur Zeit, sondern wertvolle Kräfte verlieren würden. Und nun lass uns essen und ausruhen.“

Dann begaben sich die beiden ins Zelt zu den anderen. Die Dunkelheit hatte längst den Tag abgelöst und ließ die Sterne funkeln. Jonathan aß noch etwas und fiel bald darauf in einen tiefen Schlaf. Das Nachtgebet der Männer bekam er gar nicht mehr mit.

19. Kapitel

Das Geheimnis der Karawane

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, beobachtete Jonathan, wie die Männer den noch ruhenden Tieren auf die Ober- und Unterlippen drückten, um ihnen auf diese Weise den Maulstrick anzulegen. Später sah er, wie Yassir und Saidi die Wunden der verletzten Tiere, die beim Haltemanöver am Vorabend von anderen Tieren gebissen oder getreten worden waren, weiter behandelten.

Bei dieser Aufgabe konnte Jonathan schlecht helfen. Aber er wollte mit anpacken, wenigstens dort, wo er es konnte. Standig untätig herumstehen wollte er auf keinen Fall. Schließlich kümmerten sich die Männer um ihn. Mano und Diku zeigten ihm, wieviel Futterstroh jedes Tier bekam. Gleich darauf begann er mit Freude diese Arbeit zu verrichten. Als alle Tiere versorgt und die Lasten wieder auf den Rücken der Dromedare vertäut waren, setzte die Karawane ihren Weg fort. Die Oasenbewohner verabschiedeten sie freundlich.

Noch war es angenehm kühl. Doch dann kam die Glut und das gleißende Licht der Sonne. Jonathan tat noch immer alles weh. An das Reiten auf einem Dromedarrücken musste er sich noch gewöhnen. Tapfer hielt er durch ohne zu klagen.

Mittlerweile hatte die Karawane die Sanddünen hinter sich gelassen. Vor ihr lag nun eine unendlich scheinende, flimmernde und trostlose Ebene mit feinem Geröll und Sandflächen. Ohne Unterbrechung ging es weiter. Und nach einiger Zeit überschritt die Karawane unmerklich die Grenze zu einem anderen Staat.

Am Nachmittag, die Sonne stand noch ziemlich hoch, gab Arali das Zeichen zum Halt. Die Karawane stoppte an einer bizarren Felsformation. Hier gab es weder Wasser, noch Pflanzen. Wieder dauerte es, bis alle Tiere zum Stehen kamen. Und auch dieses Mal ging es nicht ohne Rempeleien, Beißereien und Gebrülle ab.

Jonathan wunderte sich, warum Arali die Karawane gerade hier halten ließ, warum er den Rhythmus unterbrach. Jeder Halt kostete doch Zeit und Energie, und letztlich wertvolles Wasser. Es gab auch keinen Notfall. Langsam spürte Jonathan, daß irgendetwas an diesem Halt anders war und etwas besonderes bevorstand.

Während die Männer die Lasten von den Tieren abluden und das Zelt aufbauten, blickte Arali nervös in die weite Geröllebene. Es schien, als erwartete er jemanden mit dem er sich in der Einsamkeit verabredet hatte. Aber nicht nur Arali verhielt sich anders als gewohnt, auch die anderen Männer waren nervös. Überhaupt lag über dem gesamten Lager eine eigenartige Spannung, die auch den Tieren nicht verborgen blieb. Sie verhielten sich unruhiger und schienen gleichzeitig noch aufmerksamer als sonst ihre Umgebung zu beobachten.

Dann kam Bewegung in den Horizont. Eine lange Staubwolke zeichnete sich ab, und bald darauf waren in der Ferne Motorengeräusche zu hören. Kurze Zeit später kamen mehrere Pickup-Wagen am Lagerplatz zum Stehen. Zügig stiegen die fremden Männer aus ihren Kleintransportern, gingen auf Arali zu und begrüßten ihn. Arali zeigte auf einen Stapel großer Pakete, der abseits der anderen Warengüter lag. Jonathan wunderte sich, daß Arali die Männer nicht in das Zelt zum Tee einlud. Aber scheinbar hatten es alle Beteiligten sehr eilig. Sofort machten sich die fremden Männer daran, die einzelnen mit Palmfasermatten umwickelten und mit dicken Bändern verschnürten Pakete zu öffnen, um deren Inhalt nachzuprüfen. Plötzlich erschrak Jonathan heftig. Denn zufällig sah er, was in diesen Paketen steckte. Zum Vorschein kamen verschiedene Gewehre und Munition.

Arali bemerkte Jonathans Reaktion, und für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Geistesgegenwärtig zog Jonathan sich ins Zelt zurück. Das also war der Grund für diesen vorzeitigen Halt, schoß es ihm durch den Kopf. Die Karawane transportierte nicht nur Datteln und Salz, sondern auch Schußwaffen und Munition. Die markante Felsformation diente dabei als geheimer und zugleich gut auffindbarer Treffpunkt für die Übergabe inmitten dieser riesigen Einöde.

Jonathan bekam ein Gefühl der Übelkeit. Wie sollte es weitergehen? Nun, da er um das Geheimnis der Karawane wusste. Er wollte weg, schnell zu seiner Familie. Doch das war Wunschdenken und half ihm nicht weiter.

Kurze Zeit später hörte Jonathan das Zuschlagen von Wagentüren und das Anlassen der Motoren. Dann vernahm er das Anfahren und wie die Fahrzeuge sich vom Lagerplatz wieder entfernten. Als die Wagengeräusche in der Ferne verklungen waren, betrat Arali das Zelt. Sein Blick war ernst. Er setzte sich Jonathan gegenüber und sprach leise:

„Hör’ mir gut zu. Du hast nichts gesehen! Hast du mich verstanden?“

Jonathan nickte mehrmals mit ängstlichem Blick.

„Das, was ich dir jetzt sage, erzähle ich dir nur, damit du verstehst. Die Männer, die diese Ladung abgeholt haben, werden mit uns kämpfen, wenn uns die Regierung noch weiter unterdrückt. Mehr kann ich dir nicht sagen. Selbst das war schon zuviel. Also, spreche mit niemandem darüber! Behalte es für dich. Sei verschwiegen wie ein Grab! Versprichst du mir das?“

Wieder nickte Jonathan mehrmals hintereinander ohne auch nur eine Silbe zu sprechen.

„Gut.“, sagte Arali und füllte zwei Gläser mit Tee. Er gab eines Jonathan, aus dem anderen trank er.

„Aber was ich dir eigentlich sagen wollte, ist folgendes: Du kannst dich bei uns sicher fühlen. Fürchte dich nicht.“

„Danke!“, sagte Jonathan erleichtert. Tatsächlich beruhigten ihn die Worte des Karawanenführers, denn sie klangen ehrlich und aufrichtig.

„Hilfst du uns die Tiere zu versorgen?“, fragte Arali wieder lächelnd.

„Ja, gerne.“

Gemeinsam verließen sie das Zelt, um zu den Tieren zu gehen. …
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Freie Arbeiten [Kurzgeschichten]

Moderne Märchen, die das Leben schreibt - Band I & II

Sie sind faszinierend: Die Zwerge, Riesen, Feen und Fabelwesen. Und auch, wenn ich ihnen, diesen besonderen, bunt-phantasievollen Gestalten bislang noch nicht persönlich begegnet bin, so bilde ich mir ein, dass es sie gibt, dass sie mitten unter uns sind, und dass sie, genau wie wir, ebenfalls mit dem Alltagsleben irgendwie klarkommen müssen. In jedem Fall haben sie meinen vollsten Respekt, meine vollste Sympathie - trotz und gerade auch wegen ihrer Macken, Eigenheiten, Spleens und Schrulligkeiten. So verwundert es kaum, dass ich über sie schreiben musste - in Form von kurzen und längeren Kurzgeschichten. Je nach dem, was diese Figuren so ausheckten und in welche Situation sie gerade hineinstolperten. Und ich fand: Wenn man über unsere "Parallel-BegleiterInnen" schreibt, dann ist man eigentlich auch gar nicht mehr so weit davon entfernt, auch über den (menschlichen) Alltag zu schreiben, mit seinen Tücken und Unvorhersehbarkeiten. Und von hier aus ist es dann auch gar nicht mehr so weit zur Schöpfung...

Also: Hier sind einige Leseproben über Zwerge, Riesen, Feen, den Alltag und die Schöpfung.

Kurzgeschichten – 1. Leseprobe

Wie aus dem Standzwerg der Gartenzwerg wurde oder: Wie der Gartenzwerg in die Gärten der Menschen kam

Vor gar nicht so langer Zeit, der verregnete kühle Sommer war vorbei, da hofften die Menschen - wie auch die vielen anderen wunderbaren Wesen - noch auf einen herrlichen, goldenen Herbst. Pustekuchen. Der Herbst begann verregnet, kalt, ungemütlich. Und es sah ganz so aus, als ob es auch so bleiben sollte. Genau zu dieser Zeit musste ein Zwerg ...
.. vom Lande öfters in die Stadt fahren, irgendwas Geschäftliches. Dabei nutzte er stets die öffentlichen Verkehrsmittel der Menschen, und das gerne. Denn: Laufen tat er noch genug. Vom Wald - mittendrin, in dem er mit seiner Zwergenfrau in einem schnuckeligen Holzhaus mit Garten drumherum wohnte, zu Fuß ins Dorf, ein schöner Weg und Marsch - dauerte es gut vierzig Minuten. Nicht zu vergessen, der Rückweg. Doch das machte dem Zwerg nichts aus. Denn mit seinen robusten Stiefeln war er ein sehr guter Wald- und Wiesen-Läufer, ein geübter flotter Hügel-rauf-Hügel-runter-Marschierer und überhaupt ein passionierter Wanderer.
Ab der Bushaltestelle am Dorfplatz wurde es für ihn bequem. Mit dem Landbus fuhr er eine knappe halbe Stunde zum Stadtrand, zum Endhaltepunkt der Stadtbahn, die ihn dann in zwanzig Minuten direkt ins Herz der Stadt beförderte. Stets genoss er es, sich im Sitzen transportieren zu lassen und dabei aus dem Fenster in die Welt zu gucken. Oder auch mal für einige Momente wegzudösen.
Tagsüber, auf der Hinfahrt, fuhr der Landbus öfter, ungefähr stündlich. Am Nachmittag, auf der Rückfahrt zurück aufs Land, sah das schon anders aus, da bereits dünnte die Verkehrsanbindung aus. Wenn der Zwerg am fortgeschrittenen Nachmittag am Stadtbahn-Endhaltepunkt ankam, musste er meist eine halbe bis dreiviertel Stunde auf den Bus nach Hause warten. Spät abends fuhr gar kein Bus mehr nach Hause, den letzten sollte man also nicht verpassen.

Der Stadtbahn-Endhaltepunkt, eine zweckmäßige Beton-Stahl-Stein-Architektur von schlichter Hässlichkeit, war zugig-luftig und bot nur wenige Sitzgelegenheiten, die auch nur mäßig vor Wind und Wetter schützten. Meist war es zugig. Im Sommer durchaus angenehm bei lauen, leicht kühlenden Winden, im Winter eisig und bitterkalt.

Nun also der ungemütliche Herbst und der Zwerg, der an fortgeschrittenen Nachmittagen aus dem Stadtzentrum am Stadtbahn-Endhaltepunkt ankam und auf den Bus nach Hause warten musste. Zum Glück befand sich schräg gegenüber vom Umsteigepunkt ein Gartencenter. Und da ging er gerne hin. Was bedeutete: Kein Wartezeit-Frösteln, Windschutz, Regenschutz, Wärme, viel Augenfutter und für das weitere Kunden-Wohlbefinden, durchgehend dahinplätschernde "Tut-den-Ohren-nicht-weh"-Hintergrundmusik.

Jedes Mal, wenn der Zwerg in das Gartencenter ging, erfreute er sich an den Schnittblumen, Blumentopfpflanzen, Kakteen, Orchideen, Palmen, Gräsern, Farnen sowie an den glänzenden, blitzsauberen, noch unbenutzten Gartengeräten und an vielen weiteren Produkten. Ebenso schaute er auch stets bei den Aquarien mit den Zierfischen und bei den Vogelvolieren mit den munter zwitschernden Wellensittichen vorbei.

Eines Tages aber war etwas anders. Zusätzlich zum bekannten vielfältigen Angebot, standen nun im ganzen Gartencenter verteilt, aus Ton geformte, farbig bemalte Figuren herum. Zur Zierde, zur Auflockerung, zum Kauf. Absolute Hingucker, die die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich lenkten. Eine Bereicherung der Produktpallette und zudem eine sehr clevere Marketingstrategie, dachte der Zwerg beeindruckt, als er vor einer dieser immer gleichen Tonfiguren stand, die fast so groß war, wie er selbst. Dass sie alle wie geklont aussahen, störte ihn nicht im Geringsten. Ja, diese Figur mit dem fröhlichen Lächeln gefiel ihm, sehr sogar. Schon beim ersten Anblick, gestand er sich ein. Diese Figur war einfach gut gegen schlechte Laune, so meinte er. Gespannt schaute er nach dem Preisschild. Es klebte auf dem Figurenrücken. Er las: Standzwerg 22,95. Aha, die Figuren waren also Standzwerge. Sie mussten neu sein, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Preis erschien ihm fair und angemessen. Aber jeder Kauf sollte gut überlegt sein. Und so ging er weiter umher, grübelte dabei und traf immer wieder auf diese lustigen Gesellen, die, wie er, eine rote Zipfelmütze trugen. Dann wurde es Zeit, zum Bus zu gehen.

Zuhause angekommen - Zipfelmütze runter, Jacke und Stiefel abgestreift - begrüßte der Zwerg seine Frau, die in der Küche das Abendessen zubereitete. Dann ging er ins Bad, wusch sich die Hände, huschte ins Wohnzimmer, schaute kurz die wenige Post durch, für ihn war nichts dabei, gut, setzte sich an den Wohnzimmertisch, fummelte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, schüttete sein gesamtes Geld aus und begann die Geldstücke zusammenzurechnen.
"Abendgessen!", rief seine Frau.
"Ich komme gleich...", antwortete er. Wieviel war das jetzt? Nochmal. Der Zwerg begann sein Geld erneut abzuzählen.
"28,63.", murmelte er vor sich hin. Aber stimmte der Betrag wirklich? Nochmal. Zur Sicherheit. Hochkonzentriert zählte er wieder sein Geld ab. "Wo bleibst du denn? Das Essen wird kalt!"
"Jaaa, gleich!", antwortete der Zwerg genervt und rechnete weiter. Aber er war sich unsicher, daher rechnete er alles noch einmal zusammen. Bei Geldangelegenheiten soll man genau sein, sicher ist sicher, ermahnte er sich. Geschafft.
"28,63. Stimmt also."
"Nun komm doch!"
"Bin doch schon auf dem Weg!"
Zügig tat er sein Geld in den Beutel zurück, stand geschwind auf und begab sich eilig in die Küche.
"Wo du nur immer bleibst.", bemerkte seine Frau kopfschüttelnd.
"Bin doch da.", sagte der Zwerg und setzte sich an den Küchentisch.
"Immer muss ich dich mehrmals rufen!"
"Riecht lecker!", bemerkte er zufrieden und probierte die dampfende Bohnensuppe mit Käferflügeln und Regenwurmstücken.

Zwei Tage später kam der Zwerg früher aus der Stadt. Der gleich abfahrende Bus nach Hause interessierte ihn nicht. Schnurstracks ging er durch den Nieselregen zum Gartencenter und tauchte in die wohlig-warme Verkaufswelt des Garten-Zubehörs ein. Die Standzwerge waren noch da und zogen ihn gleich wieder in den Bann. Ja, dieses unbeschwerte, fröhliche Lächeln hob sofort seine Laune und ließ alles um ihn herum leichter erscheinen. Er schlenderte umher und begutachtete die Standzwerge. Dann blieb er bei einer Figur stehen, die unter einer Palme stand. Es schien ihm, als ob dieser Standzwerg, im Gegensatz zu seinen Klon-Kameraden, eine Nuance heller, breiter und fröhlicher lächelte.
Ja, diesen auserwählten Gesellen wollte er nun genauer unter die Lupe nehmen. Sofort ging es ans Eingemachte. Beim TÜV hätten sie die Standzwerg-Komplett-Untersuchung auch nicht gewissenhafter durchführen können...
Mit gespitzten Ohren klopfte er die Figur Stück für Stück ab. Sie klang hohl, wohlklingend, schien stabil und fest. Auch die Standfestigkeit überprüfte er genauestens. Kein Kippeln, sehr gut. Dann untersuchte er akribisch die Farblasur, die war tadellos. Abschliessend kam noch der Gesamteindruck von allen Seiten auf den Prüfstand, der Zwerg mit Adlerblick. Nein, hier gab es absolut nichts zu meckern. Im Gegenteil, alles sah bestens und professionell aus. Fazit: Diese tönernde, geradezu klassische Skulptur mit ihrem formvollendeten Design war "Top-in-Ordnung". Im Geiste vergab der Zwerg feierlich das Gütesiegel höchster Klasse: "1A mit Sternchen".
Ein letzter scharfer Blick, ein kaum sichtbares, kurzes bejahendes Kopfnicken mit einem leise vor sich hin gemurmelten "Ja!" für sich selbst - und die Entscheidung war gefallen. Ein Zwerg, ein Wort. Kein Zweifel: Diese Investition musste sein. Ausserdem, so kam es im in den Sinn, würde er mit diesem aussergewöhnlichen Gegenstand zugleich auch hochrangige Kunst erwerben! Einen kommenden Skulpturen-Klassiker! Da war er sich absolut sicher. Und zu einem exzellenten, ja geradezu sensationellen Schnäppchen-Preis - den man lieber für sich behalten sollte. Was für ein Glück! Den Zwerg durchströmte ein wohlig-warmes Gefühl, denn dieser Standzwerg würde ihn sein gesamtes Leben begleiten. Auch darin war er sich sicher. Und seine Frau würde ihn ganz bestimmt auch mögen. Hoffte er...
Mit beherztem Griff packte der Zwerg den Standzwerg, buckelte ihn sich auf seine Schulter und marschierte schwerer atmend zur Kasse. Das Teil wog, aber das sprach doch auch für seine Qualität.

"Das soll's sein?", fragte die junge Aushilfskassiererin mit den großen Ohrringen und den überlangen, hellrosa-farbenen künstlichen Fingernägeln. "Ja, bitte.", sagte der Zwerg angestrengt, während er den Standzwerg behutsam auf das Transportband legte. Er schwitze. Dann griff er in seine Hosentasche und holte seinen Geldbeutel hervor. Das Transportband bewegte den Standzwerg zu der jungen Frau, sie schaute nach dem Preisschild. "Ist ein lustiges Teil, nicht?", bemerkte sie leicht lächelnd.
Der Zwerg schaute überrascht und dachte: "Die hat ja Null Ahnung von Kunst und Hochkultur."
"Zweiundzwanzigfünfundneunzig."
"Moment bitte.", bat der Zwerg, zählte langsam und konzentriert seine Geldstücke bis zum benötigten Betrag ab und übergab sie in die krallenhafte Hand der jungen Kassenfrau. Die zählte alles noch einmal flott nach und verteilte die Geldstücke ebenso flott in der Kasse, ohne ihre langen Fingernägel in Mitleidenschaft zu ziehen.
"Beleg?"
"Ja, bitte.", antwortete der Zwerg, nahm den ausgedruckten Beleg aus der Kralle entgegen und stopfte ihn zusammen mit seinem Geldbeutel tief in seine Hosentasche. Dann schulterte er sich den Standzwerg wieder auf. Die junge Aushilfskassiererin schaute skeptisch.
"Wiedersehen.", sagte der Zwerg. Doch die junge Frau wendete sich bereits dem nächsten Kunden zu. Der kaufte keine Kunst.

"Bis zum Bus, ich muss es jetzt nur bis zum Bus schaffen.", motivierte sich der Zwerg selbst und keuchte. Er schwitzte nun ganz schön stark, aber was tut man nicht alles für die Kunst. Der Nieselregen hatte in der Zwischenzeit aufgehört, aber das Einheitsgrau des Himmels war geblieben. Der Bus war schon vorgefahren. Die Fahrgäste saßen bereits auf ihren Plätzen und warteten auf die Abfahrt. Der Zwerg musste sich beeilen. Doch er schaffte es, da der Bus noch auf eine Stadtbahn wartete.
"Muss ich für den Standzwerg eine Fahrkarte lösen?", fragte der Zwerg den gelangweilt dreinschauenden Busfahrer. Aber der schüttelte nur verneinend mit dem Kopf und wunderte sich über den schwitzenden Zwerg, der sich mit einem Standzwerg abplagte.
Der Zwerg war froh, daß er ein zusätzliches Fahrgeld sparen konnte. Die Stadtbahn kam, entließ ihre Fahrgäste und einige von ihnen huschten schnell in den Bus. Dann begann die Rückfahrt, die der Zwerg genoss, obwohl er sicherheitshalber den Standzwerg die gesamte Fahrzeit festhielt, damit dieser nicht umkippen konnte. Während dieser Zeit kehrten auch seine Kräfte langsam zurück. Das war auch nötig, denn die würde er noch brauchen.

Der lange Weg von der Dorfplatz-Bushaltestelle bis nach Hause in den Wald war eine einzige Plackerei. Der Zwerg brauchte für seinen Fußmarsch fast dreimal länger als sonst. Denn der Standzwerg wurde ihm schon nach kurzer Zeit immer schwerer. Schon in der Neubausiedlung musste er seine neuerworbene Skulptur mehrfach absetzen. Er schwitzte wie ein Ochse, Arme, Schultern und Nacken schmerzten. Immer wieder war er gezwungen, den fröhlich lachenden Standzwerg von seinen Schultern zu nehmen und zu pausieren. Und so manche Person, die vorbeikam, wunderte sich über die beiden Zwerge, weil der eine starr und fröhlich lachend mitten auf dem Weg stand und der andere erschöpft auf dem Bordstein saß. Ab und an blickte auch mal jemand hinter den Gardinen hervor, wenn der Zwerg mit seinem kommenden Kunstklassiker auf den Schultern vorbeischlurfte. Doch all das machte ihm nichts aus. Er hatte nur ein Ziel, nämlich den Standzwerg, dieses wunderbare Kunstwerk, dass auch noch ein Schäppchen war, unversehrt nach Hause zu bekommen. Dass mit der durchaus verständlichen Neugier der Leute erledigte sich, als er die Neubausiedlung hinter sich ließ.

Der Weg zwischen den weiten Feldern kam ihm noch nie so lang vor. Er musste viele, kleine Pausen einlegen. Auch, weil nun seine Füsse schmerzten. Der Vorteil aber war, hier draußen liess es sich unbeobachteter gehen und schleppen. Bis auf einmal, am Waldesrand. Da kam eine ältere Dame auf ihn zu, die ihren Hund Gassi führte. Der Zwerg machte gerade wieder Pause, saß durchgeschwitzt auf einem Baumstumpf am Wegessaum und hatte zuvor den Standzwerg mitten auf dem Weg abgestellt. Die ältere Dame schaute gleichgültig den Standzwerg an und ging weiter, doch der Hund freute sich über den neuen bunten Baum und wollte gerade gegen den Standzwerg pinkeln. Aber Frauchen, die unbeeindruckt ihren Weg fortsetzte, zog ihren Vierbeiner einfach weiter.
"Glück gehabt.", dachte der Zwerg und raffte sich auf, um den Standzwerg in Sicherheit zu bringen. Ausserdem wurde es langsam dunkler.

Nun war es nicht mehr allzu weit bis zu dem kleinen Holzhaus, das auf einer Lichtung inmitten einer Tannenschonung stand. Der Zwerg ging noch einen längeren Waldweg entlang, bis er dann, plötzlich, in die dichte, dunkle Tannenschonung eintauchte. Hier gab es keinen erkennbaren Weg mehr. Dieser letzte Teil seines Weges wurde allerdings beschwerlicher, da er den Standzwerg durch die niedrig hängenden Tannenzweige und pieksenden Tannennadeln hindurch manövrieren musste. Das kostete noch einmal viel Kraft und nötigte ihn weitere Verschnaufpausen ab. Aber, wie erwähnt, was tut man nicht alles für die Kunst.

Doch irgendwann ist auch der längste Weg einmal zu Ende. Mit dem letzten Tageslicht kam der Zwerg zu Hause an. Völlig erledigt öffnete er die Tür zum Vorgarten, schleppte sich noch bis zur Haustür, stellte dort vorsichtig den Standzwerg ab und holte seinen Hausschlüssel aus seiner Manteltasche hervor. Dann öffnete er die Haustür, wuchtete sich wieder den Standzwerg auf die schmerzenden Schultern und trug ihn gleich ins Wohnzimmer, wo er ihn mitten im Raum abstellte.
"Das wäre geschafft", dachte der Zwerg glücklich.
Dann ging er erleichtert zurück in den Flur, schloss die Haustür, zog sich seine verschwitzte Zipfelmütze vom Kopf, zog den Mantel und die schweren Stiefel aus, ging ins Badezimmer und wusch sich mit frischem, kalten Quellwasser. Er machte das Fenster ganz auf und sah seine Frau mit einer Laterne in der Hand im Kräutergarten Kräuter aussuchen.
"Bin wieder da, mein Schatz!"
"Heute bist du aber spät."
"Hat sich so ergeben."
"Wir können auch bald essen."
"Sehr schön. Hab' einen Bärenhunger."
Der Zwerg schloss das Badezimmerfenster, zog sich um und ging ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich gemütlich in seinen geliebten, abgewetzten Ohrensessel, atmete zufrieden tief durch und betrachtete lächelnd sein neu erworbenes Kunstwerk.
"Was für ein Prachtexemplar!", murmelte er voller Besitzerstolz vor sich hin.
Plötzlich tauchte seine Frau in der Wohnzimmertür auf.
"Huch!", erschrak sie laut. "Was um Himmels Willen ist denn DAS?"
[...]
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Kurzgeschichten – 2. Leseprobe

Der Riese und die Werbefläche

Einst bekam ein Riese, er war Malermeister von Beruf, von einem großen Bau- und Heimwerkermarkt im hiesigen Gewerbegebiet den Auftrag, eine Werbeinformation an einer der langen, schmucklosen Wände der Aussenfassade anzubringen. Dies sollte ganz unkompliziert mit Pinsel und schwarzer Farbe geschehen. Gesagt, getan. Der Riese wusste, wie der Filialleiter, sein Auftraggeber, sich die Angelegenheit vorstellte, und rückte mit seinen Arbeitsutensilien an. Kurz nachdem er sich auf die noch unbebaute Wiese vor die zu bemalende Gebäudewand hingesetzt hatte, er war ja sehr groß, und eine Leiter brauchte er schon gar nicht, begann er mit seiner Arbeit. Den vom Filialleiter ausgehändigten Zettel mit dem darauf enthaltenen genauen Wortlaut der Werbeinformation neben sich, pinselte er fleißig und gewissenhaft den gewünschten Werbeschriftzug auf die helle Aussenwand. Als er seine Arbeit beendet hatte, las er noch einmal den frisch aufgepinselten Text vor sich hin, der da hieß: JETZT NOCH MEHR AUSWAHL AN TEPPICHBÖDEN - VIELE SONDERANGEBOTE !
Erleichtert stellte der Riese fest, daß er sich nicht verschrieben hatte. Dann räumte er seinen Kram zusammen, Pinsel, Farbe, Lappen, Zettel und sein Butterbrot, und erhob sich ein wenig schwerfällig, zog sich noch an dem zwanzig Meter hohen Flachdach empor, fasste sich ins Kreuz, er hatte öfter Rückenprobleme, und entfernte sich anschließend vier Schritte von dem Bau- und Heimwerkergebäude, um seine Arbeit ein letztes Mal, nun von Weitem, zu betrachten. Aber als er auf der noch unbebauten, schön blühenden Wiese des Gewerbegebietes stand und von ungefähr vierzig, fünfundvierzig Metern Entfernung sein soeben vollendetes Werk begutachtete, da traf ihn, den immer so akribisch arbeitenden, fast der Schlag. Mit Entsetzen musste er feststellen, daß dieser, von seiner künstlerischen Hand erschaffene Werbeschriftzug nach rechts unten abfiel. Zugegeben, nicht so viel, wie man hätte annehmen können, aber jeder, der imstande war einigermaßen geradeaus zu gucken, konnte sehen, daß hier gepfuscht worden ist.
"Verflucht! So ein Mist!", platzte es aus dem Riesen ärgerlich heraus. Übersauer auf sich selbst, stampfte er mit seinem rechten Fuß kräftig auf. Dann stand auch er schräg nach rechts unten - und die schön blühende Wiese besaß von nun an eine ansehnliche Mulde, gut für Bauschutt. Die von ihm erzeugte Erschütterung blieb im Bau- und Heimwerkermarkt und in der näheren Umgebung nicht unbemerkt, aber die Menschen kannten das schon, schauten nur kurz auf, und machten einfach weiter.
Dem Riesen brach nun der Schweiß aus, und wem, frage ich, wäre das an seiner Stelle nicht passiert. Dabei war er so froh gewesen, seine Arbeit zügig erledigt zu haben, und nun das. Pfuscharbeit verabscheute er zutiefst, und so etwas wollte er sich auf keinen Fall nachsagen lassen, zumal er sich solche Mühe gegeben hatte. Doch was zum Teufel konnte er tun?
Der Riese kratzte sich am Hinterkopf, kaute dann an einem seiner Fingernägel herum und überlegte dabei angestrengt, wie er es anstellen könne, diese leidige Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Was er auf jeden Fall vermeiden wollte, war, den gesamten noch frischen Farbaufstrich mit Farbentferner wieder abzulösen. Das wäre eine mühselige und langwierige Arbeit, und eine unsägliche Sauerei dazu. Nein, er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Soviel stand fest. Da fiel sein Blick auf eine Gruppe von sieben hohen, schön gewachsenen Pappeln, die hinten am anderen Ende der Wiese in einer Reihe standen. Und plötzlich hatte er eine Idee.
[...]
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Kurzgeschichten – 3. Leseprobe

Schöpfungsgeschichte Nr. 4: Gottes Experiment

Als Gott das Universum gebastelt hatte, legte er eine schöpferische Pause ein, um sich ein wenig auszuruhen und um nachzudenken, was er noch so alles erschaffen könnte. Irgendwann, ich weiß nicht mehr genau, wann es war, raffte er sich wieder auf und begann mit weiteren, jedoch sehr feinen und schwierigen Arbeiten.
Ich habe noch seine verschiedenen Gesichtsausdrücke vor Augen, wie er, mal verbissen, dann wieder entspannt mit einem Lächeln auf den Lippen, wundervolle Dinge erschuf, die auf den ersten Blick sehr einfach aussahen, bei genauerer Betrachtung sich allerdings als recht kompliziert und durchdacht herausstellten. Es war schon eine beachtliche Leistung, die er da an den Tag legte.
Mir war bekannt, daß er an einem Experiment namens "Terra" arbeitete. Er selbst hatte mich eingeweiht und mir den Planeten gezeigt, den er für geeignet hielt, um sein Experiment durchzuführen. Begeistert redete er von dem perfekten Abstand zwischen einer brennenden Kugel, die er "Sonne" nannte, und diesem Planeten, und ich war, ehrlich gesagt, recht skeptisch. Denn für mich sah der Planet wie Tausend andere aus. Und was den von Gott so euphorisch hervorgehobenen Abstand betraf, so empfand ich das Gerede davon ein wenig übertrieben. Ich hätte für dieses Experiment einen ganz anderen Planeten ausgewählt, nämlich einen, der aus Gründen der schnellen Auffindbarkeit außerhalb dieses fürchterlichen, von Gott als "Milchstraße" bezeichneten Sternenchaos liegt.
Als ich Gott meine Auffassung mitteilte, entgegnete er mir völlig cholerisch, ich hätte doch überhaupt keine Ahnung und solle mich gefälligst aus seinen Angelegenheiten 'raushalten. Das tat ich dann auch. Ich war beleidigt, er war es auch, und für einige Zeit wechselten wir kein einziges Wort mehr. Trotzdem blieb ich bei ihm und beobachtete weiterhin sein Tun. Wenig später vertrugen wir uns dann wieder. Denn so richtig nachtragend sind wir beide nicht.

Nun gut. Gott werkelte also weiter vor sich hin. Und schließlich, als er der Meinung war, es wäre genug mit der Bastelei, da stopfte er all seine neuen Kreationen in einen großen Umzugskarton, hielt Ausschau nach der "Erde" - "Die Erde", wie er den Planeten nun nannte - und als er sie nach längerem Suchen und unter verhaltenem Fluchen endlich wiedergefunden hatte, da kippte er mit einem Mal den gesamten Inhalt des Kartons über dem kleinen Planeten aus.
Zu meinem Erstaunen ließ er all seine Schöpfungen einfach auf der Erde liegen, so, wie sie dort hingefallen waren. Ich fand das eigenartig, schwieg aber. Im Vertrauen: diesen Teil des Experiments fand ich ziemlich... Na, sagen wir mal, "unsensibel". Auch unverständlich, schon allein deswegen, weil er doch zuvor mit äußerster Akribie an seinen Schöpfungen gearbeitet hatte.
Als ich ihn behutsam darauf ansprach, warum er so grob mit seinen Kreationen umgehe, fuhr er mich gleich wieder barsch an und posaunte, er tue das nur, um sie ohne Umschweife mit dem "Ernst des Lebens" zu konfrontieren. Von diesem Moment an zog ich es vor, mich nicht mehr zu diesem Thema zu äußern und mich nur noch auf die Rolle des stillen Beobachters zu konzentrieren. Na ja, so ist er halt, aber ansonsten ist Gott eine wirklich gute Seele.

Ich vermute, sein grober Umgang mit seinen aufwendigen Arbeiten resultierte aus einer aufkeimenden Ungeduld. Nach seiner intensiven Schaffensphase hatte er wohl einfach keine Lust mehr, weitere Zeit in diesen Teil der Arbeit zu investieren. Er wollte endlich Reaktionen sehen, was ja auch durchaus verständlich ist.
Unter uns gesagt, ich fand es noch zu früh, "Terra" beginnen zu lassen. Denn in mir war ein unbestimmtes Gefühl aufgetaucht, daß mir sagte, einige seiner Schöpfungen seien, trotz ihrer bewundernswerten Durchdachtheit, noch nicht vollständig ausgereift. Allerdings erwähnte ich meine Bedenken Gott gegenüber nicht, da ich wusste, daß ich ihn sofort wieder auf die Palme bringen würde, wenn ich ihm schonend empfehlen würde, die ein oder andere seiner Schöpfungen einfach noch einmal zu überdenken und zu überarbeiten. Außerdem hätte er sowieso nicht auf mich gehört, weil er ein dickköpfiger, eigenbrötlerischer Kerl ist.

Entgegen meiner ursprünglichen Meinung muss ich zugeben, dass die Wahl des Planeten doch ein guter Entschluss gewesen war. Denn kurz nachdem Gott seinen prallgefüllten Karton über der Erde ausgeschüttet hatte, und er wenig später alles mit einem sagenhaften Lichtblitz so richtig in Gang setzte, passierte dort nämlich eine ganze Menge.
[…]
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Kurzgeschichten – 4. Leseprobe

Die Lüge des weißen Bogen Papiers

Es war an einem Montagabend, vor nicht allzu langer Zeit. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich an meinem Schreibtisch saß, und über einem weißen Bogen Papier gebeugt war und gleichzeitig überlegte, was ich schreiben könnte. Mir schwebte eine Kurzgeschichte vor, aber ich hatte noch keine Idee, über was ich eigentlich schreiben wollte. Nur das Vorhaben war vorhanden, den Tag mit etwas Kreativem zu beschließen. Und so ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Ziellos sprangen sie umher, griffen zahlreiche Themen auf, um sie flugs darauf rücksichtslos fallen zu lassen. Ja, und mitten in meinen Gedankensprüngen, da hörte ich mit einem Mal eine Stimme.
"Hallo, bitte helfen sie mir.", bat die Stimme.
"Wie?", fragte ich reflexartig reagierend und dachte, ich träume, so daß ich dem Vorfall keine weitere Beachtung schenkte.
"Hallo, bitte, bitte, helfen sie mir." flehte die Stimme, die ich nun nicht mehr verleugnen konnte. Ich träumte offenbar nicht.
"Ich bin hier.", sprach hoffnungsvoll die Stimme, die ich nicht richtig orten konnte, die aber aus dem Bereich meines Schreibtisches kam, soviel war klar.
Mit konzentriertem Blick untersuchte ich meine Schreibunterlage, die Steingut-Tassen mit Stiften, Kugelschreibern und Textmarkern darin, dann die einzelnen Bücher, die sich mit der Zeit zu kleinen Türmchen aufgebaut hatten sowie meine zwei Aktenordner, die ich links abgelegt hatte. Doch da war nichts. Den leicht überschaubaren Stapel mit den weißen, unbeschriebenen Din-A4-Bögen Papier überging ich. Akribischer schaute ich jedoch unter die vielen kleinen Merkzettel, die mit meiner fürchterlichen Klaue verunziert waren. Außer meinem kleinen Radiergummi, den ich seit Tagen schon vermisst hatte, fand ich nichts. Ich kam mir ziemlich albern vor. Nach was suchte ich eigentlich? Schon kamen mir erneute Zweifel, ob die Stimme wirklich real gewesen war.
Gerade, als ich mich wieder in meine schreib-kreativen Überlegungen vertiefen wollte, wurde ich wieder angesprochen.
"Hallo, ich bin hier! Der oberste weiße Bogen Papier, der auf dem Papierstapel liegt."
Neugierig und ungläubig schaute ich auf den obersten Bogen Papier des Papierstapels. Ich sah zuerst nur das Weiß des Papierbogens. Doch dann, als ich länger darauf blickte, fielen mir die Konturen eines Gesichtes auf, sehr schwach, geradezu unscheinbar, aber tatsächlich erkennbar. Doch nicht nur das, dieses Gesicht lebte. Ja, ungelogen, es bewegte sich. Zwei Augen schauten mich an, die Lippen bewegten sich etwas und die Nasenflügel hoben und senkten sich leicht.
"Haben sie mich endlich entdeckt!?", fragte der weiße Bogen Papier erleichtert.
Ich deutete ein Nicken an und starrte fassungslos in das Gesicht.
"Gott sei Dank. Ich hatte schon die Befürchtung, sie würden auf meine Bemühungen, mich bei ihnen aufmerksam zu machen, nicht eingehen."
Vermutlich schaute ich immer noch wie der erste Mensch.
"Wissen sie, ich bin eine verzauberte Kurzgeschichte."
"Aha", sagte ich nur und dachte, wie praktisch, kommt ja wie gelegen. Trotzdem fühlte ich mich im falschen Film und starrte weiter auf das Gesicht.
"Sie hören mir doch zu, oder?"
"Ja, ja,... natürlich.", antwortete ich.
"Danke, das beruhigt mich."
Der weiße Bogen Papier klang erleichtert.
"Sagen sie, ...habe ich recht gehört, daß sie etwas von ...verzaubert... oder so, sagten?", fragte ich verunsichert nach.
"Oh, sie haben das tatsächlich mitbekommen? Wie schön. Ja, das stimmt. Ich bin verzaubert worden. Von einem bösen Zauberer. Eigentlich bin ich eine sehr schöne Kurzgeschichte. Nur, seit dem Tage, an dem mich diese Unperson verzaubert hat, ist meine Kurzgeschichte nicht mehr sichtbar, und ich wurde zu einem profanen Bogen Papier."
Ich runzelte ungläubig die Stirn.
"Sie glauben mir nicht, stimmt's?“, fragte der weiße Bogen Papier traurig.
"Um ehrlich zu sein..."
"Ja, ich weiß." sagte er entmutigt. "Es klingt wie aus einer jener Geschichten von diesen beiden Brüdern...na, den..."
"Gebrüdern Grimm.", komplettierte ich.
"Ja, richtig. Danke."
"Keine Ursache.", sagte ich und versuchte die Situation zu retten. "Verstehen sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte ihnen nicht zu nahe treten, aber..."
"Nein, nein, lassen sie nur. Ich verstehe ja ihre Bedenken. Da werden sie aus heiterem Himmel von einem Bogen Papier angesprochen, der außerdem auch noch behauptet, eine verzauberte Kurzgeschichte zu sein. Und sie sollen all das glauben. Ist ein bißchen viel verlangt, ich weiß."
"Nun... Mir ist so etwas noch nie vorher passiert. Und davon gehört, habe ich bislang auch noch nicht... Und dann bin ich sowieso von Haus aus skeptisch.", gab ich noch zu meiner Rechtfertigung zu bedenken.
"Eine gewisse Skepsis ist in dieser Welt durchaus angebracht. Wie recht sie damit haben. Natürlich. Aber ich... Ich brauche ihre Hilfe. Dringend. Darum möchte ich sie bitten. Ich möchte endlich wieder ich selbst sein. Ich möchte nicht mehr ein unbeschriebenes Blatt sein. Das macht mir sehr zu schaffen. Ich bin eine sehr schöne Kurzgeschichte, interessant, mit Tiefgang. Und die möchte ich auch wieder sein. Das ist mein sehnlichster Wunsch."
"Verstehe, würde mir wohl auch so gehen, an ihrer Stelle."
"Ehrlich? Ach, das ist aber reizend von ihnen, daß sie das jetzt gesagt haben."
"Schon gut. Ich denke, ich kann ihnen glauben. Sagen sie, wie kann ich ihnen denn behilflich sein?", fragte ich neugierig und war gespannt auf die Antwort.
[…]
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Journalistische Arbeiten

Wer auch immer auf eine Bühne steigt und etwas vorträgt, hat meinen vollsten Respekt, jede Künstlerin, jeder Künstler, unabhängig von Alter, Geschlecht, Genre... Ich weiß, was es bedeutet, vor drei oder dreitausend Menschen zu stehen und einen Auftritt, eine Performance zu geben. Das habe ich immer im Hinterkopf, wenn ich über die künstlerischen Leistungen von anderen schreibe. Anbei eine Auswahl aus bislang über 850 veröffentlichten Kulturberichten für die Tageszeitung Neue Presse Hannover - es sind die Originaltexte, wie sie an die Redaktion gingen.

Und: Bevor ich fester freier Mitarbeiter bei der Neuen Presse Hannover wurde, war ich bereits ein eifriger Kultur-Gänger und hatte, Jahr für Jahr, eine Vielzahl an kulturellen Veranstaltungen verschiedenster Couleur besucht. So ist es bis es heute geblieben, auch neben der Kultur-Berichterstattung ...

Journalistische Auftragsarbeiten [Leseprobe 1]

Top-Tanztheater über Katastrophen, Krisen, Leere und Neubeginn – Japanisches Frauen-Butoh-Tanzduo fasziniert in der Eisfabrik

HANNOVER. Hochintensives Tanztheater-Erlebnis im Schwarzen Saal der Eisfabrik: "Zero", die Tanztheater-Performance mit den beiden japanischen Butoh-Tänzerinnen-Choreographinnen Minako Seki (*1961) und Yumiko Yoshioka (*1953), fesselt die Zuschauer von Anbeginn und lässt sie bis zum Finale nicht mehr los. Ungewöhnliche Tanz- und Bewegungsabläufe, Körperhaltungen und Tanzfiguren, von geschmeidigen bis zu abrupt-kantigen Bewegungen, verbinden sich mit vielfältigem, oft überraschendem extremen Mimik-Spiel. Da werden (teilweise wie auf japanischen Holzschnitten) unglaubliche Grimassen gezogen und Gesichtsausdrücke stoisch-starr eingefroren. Und das Kaleidoskop der menschlichen Empfindungen und Gefühlszustände, wie Schmerz, Angst, Hilflosigkeit, Wut, Verzweiflung, Hoffnung und Freude beeindruckend tänzerisch und mimisch dargestellt.
"Zero" ist eine weitere erfolgreiche Zusammenarbeit (nach "Two", 2017) zwischen den beiden Tänzerinnen und dem Ensemble der Commedia-Futura, mit Wolfgang A. Piontek (Idee, Inszenierung, Regie, Bühne) und Peter Piontek (Dramaturgie). Alle neun Aufführungen (Premiere war am 19.09.), die Komponist Benjamin Kövener eindrucksvoll musikalisch live begleitet, sind restlos ausverkauft (33 Plätze statt der sonst 80; jeder Gast hat seinen persönlichen Platz, mit Namen). In dieser komplex-tänzerisch-theatralischen Vorstellung geht es um Katastrophen, Bedrohungen und Krisen, die zugleich Ende und Anfang sein können, und auch um Leere und Neubeginn. Zentraler Ausgangspunkt sind dabei die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, 1945, die im kollektiven Gedächtnis der Japaner unverrückbar implementiert sind - aber auch andere Negativ-Ereignisse eines Lebens. Schon vor der großen, durch Mark-und-Bein gehenden (Klang-)"Explosion" (Explosion-Sound: Christoph Littmann) performed das Duo hochdynamisch in den verschiedenen Kreisen und Rundflächen auf dem Bühnenboden - und zu gelungenen Video-Projektionen (Volker Schreiner) und Lichteffekten (Jörg Finger). Es beginnt symbiotisch. Die Tänzerinnen sind wie miteinander verwachsen, Stirn an Stirn, ganz eng aneinander geschmiegt, bewegen sie sich graziös-geheimnisvoll wie in Zeitlupe. Bis sich die äußere Welt verändert und sie auseinander gerissen werden und sie darauf reagieren müssen. Dann die "Katastrophe" ("Atombombenabwurf"-Szene), die alles komplett verändert. Eindrucksvoll werden tänzerisch der Schmerz, der Schock und der Versuch des Erfassens, was überhaupt passiert ist, dargestellt. Dann die Leere: Der Nullpunkt, "Zero", der (gnadenlos) eine neue Zeit einleitet. Eine Zeit, die Neu-Orientierung und Neubeginn erzwingt, denn das Leben muss weitergehen. Und hier erhält die Performance ihre ungeplante Aktualität - mit der derzeitigen Pandemie, die so viel verändert hat. "Zero" steht hier auch im Sinne des japanischen "Ku" für die Idee des Nichts, mit der Möglichkeit daraus Neues zu entwickeln... All dies wird ebenfalls beeindruckend dargestellt: das Suchen, Sich-Annähern, Schutz-geben, Sich-voneinander-lösen, auch Schreie und Lachen gibt es. Einer der Höhepunkte, der besonders packt, die "Schamanin"-Szene, wobei Yoshioka als "Heilerin" mit Sträucher-Ästen und wilden wie zärtlichen schamanischen Ritualen versucht, ihre wie tot daliegende Partnerin wieder ins Leben zurückzuholen. Wechselnd stellen die beiden auch Kleinstkinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen dar - wobei beide auch japanisch sprechen. Ein dargestellter Kreislauf des Lebens, der stets mit Unvorhersehbarem konfrontiert wird, in jeder Generation. Ästhetisch, skurril, verstörend, berührend, überraschend... Hohe Bewegungs- und Darstellungskunst. Exzellente Körperbeherrschung. Faszinierend. Nach hochspannenden 70 Minuten mehrere Minuten kräftiger Applaus mit Jubel, Bravos und Fußtrappeln. Übrigens: Die besondere Nähe der beiden Tänzerinnen, und damit diese Performance, ist nur möglich, weil beide Künstlerinnen in einem Haushalt leben. (Text: Christian Seibt / sei) (Geschrieben am: 02.10.2020) (Bewertung: 5/5 Sterne)
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Journalistische Auftragsarbeiten [Leseprobe 2]

Beeindruckend: Haarmanns Geschichte im Leibniz Theater

HANNOVER. Dieser Name ist in Hannover mit grausamsten Morden verbunden: Haarmann! Als Serienmörder wurde Friedrich "Fritz" Heinrich Karl Haarmann (1879-1925) wegen Mordes an 24 Jungen und jungen Männern im Alter von 10 bis 22 Jahren verurteilt und am 15. April 1925 hingerichtet. Über ihn gibt es nun ein beeindruckend-schauriges Theaterstück, das am Sonntagabend im Leibniz Theater seine erfolgreiche, ausverkaufte Uraufführung erlebte. "Haarmann lädt zum Dinner" heißt das 90-minütige Werk - salopp betitelt, ist es eine ernsthafte zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Person Haarmanns und dem Kriminalfall.
Konzipiert, geschrieben und inszeniert wurde es von Leibniz Theater-Direktor Joachim Hieke und dem professionellen Leibniz-Darsteller und Regisseur Rainer Künnecke. Als Basis dienten die berühmten Polizei-Protokolle und weitere Literatur. Eindrucksvoll und hervorragend, mit faszinierender Mimik, Gestik und Körperhaltung, verkörpert Künnecke den Haarmann (den "Vampir/Schlächter/Kannibalen/Werwolf...von Hannover", wie er im Volksmund genannt wurde). Im ersten Akt erscheint er gutbürgerlich im Mantel, mit Hut und Koffer - fragt freundlich, ob jemand Dosenwurst kaufen möchte. Lacher, die im Halse stecken bleiben, denn das Gerücht, er habe das Fleisch seiner Opfer eingedost, hält sich bis dato. Überraschung: Salami-Scheiben werden an den Zuschauer-Tischen serviert. Schräg-makaber, Lachen. Man greift (zögernd) zu. Packend, wie Künnecke Haarmann darstellt: Aufrecht stehend erzählt er offen von sich, in einfacher, fast kindlicher Ausdrucksweise und Betonung, freundlich bis aufgeregt, naiv-einfältig, mit Satz-Wiederholungen und Pausen. Die 80 Gäste hängen an Künnecke's Lippen. Ein verkorkstes Leben: schwere Kindheit (familiäre Gewalt, Missbrauchsopfer), die zu verbergende Homosexualität (damals strafbar), Hirnstörungen, Klinikaufenthalte, berufsunfähig, minderbegabt, Schwarzmarkthändler, Polizeispitzel und Beziehungsabhängigkeiten (zu Hans Grans) - in (Not-)Zeiten um den Ersten Weltkrieg. Dazwischen grausame Details: Die "gegen seinen Willen sexuelle Erregung", die zum unkontrollierbaren Rausch mit Halsbiss-Tötung führen konnte. Das Zerlegen, Zerkleinern der Leichen. Die Entsorgung der Menschenreste. Naivität: "Wollte Friedel nicht totmachen", "Bin ein guter Mensch, meine Mutter weiß das". Hochspannend, wie Künnecke in der Schilderung Haarman's Abspaltung von den Bluttaten spielt. Das Weinen nach der Tötung, der kühl-rationale Verschleierungshandlungen folgen. Ab und an Befreiungs-Lacher (Situationskomik), um das Unfassbar-Grausame abzumildern. Zweiter Akt: Haarmann mit einfacher Kleidung am Polizei-Verhörtisch. Ausdrucksstark spielt Künnecke Haarmann's stereotype Verhaltensweisen, seine Erschöpfung. "So viele waren es doch nicht", "Die sollen mich köppen, dann ist gut". Er erhält die Henkersmahlzeit, Kaffee und Brot mit Harzer Käse. Das Publikum auch! Man speist quasi mit dem Serienmörder. Ein Polizist (Hieke) führt ihn ab. Beim Geräusch des Fallbeils zuckt man unweigerlich zusammen. Stille. Durchatmen. Man hat einen Menschen erlebt, kein Monster - ohne jedoch eine Bestrafung in Frage zu stellen. Langer, kräftiger Applaus. Ein intensives Kammerspiel das nachwirkt und Denkanstöße gibt. Sehens- und erlebenswert! (Ein Stück für Erwachsene - Nicht für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren). (Text: Christian Seibt / sei) (Geschrieben am: 02.10.2017) (Bewertung: 4/5 Sterne)
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Journalistische Auftragsarbeiten [Leseprobe 3]

Wuchtiger Eisbrecher-Sound pflügt durch die Swiss Life Hall

HANNOVER. Das Eis ist schon vor dem ersten Ton gebrochen. Eisbrecher werden von ihren 3200 Fans frenetisch, mit fettem Jubel empfangen und gefeiert. Bei ihrem knallharten, treibenden Opener "Zwischen uns" ("Ich geh' keinem Ärger aus dem Weg") zeigen sie gleich, wohin es den Abend in der vollen, dampfenden Swiss Life Hall lang geht. Und schieben "Der Wahnsinn" ("Ich weiss nicht wer ich bin") und ihren Weltuntergangs-Song "Phosphor" ("Hier kommt das Ende der Welt... Ihr sollt brennen, ihr habt das Feuer verdient") gleich hinterher. Das 'volle Brett' bleibt.
Dafür sorgen Frontmann und Sänger Alexander "Alexx" Wesselsky mit seiner markanten tiefen, rauen Stimme, Jochen "Noel Pix" Seibert (Gitarre, Keyboards, Programming), Jürgen Plangger (Gitarre), Rupert Keplinger (Bass) und Achim Färber (Schlagzeug). Der Stahlkoloss Eisbrecher bricht sich seinen Weg, die Fans folgen begeistert und sind permanent in Bewegung. Die Bayern gehören zu den Vertretern der "Neuen Deutschen Härte", spielen Schwarze Szene, Metal, Heavy Rock mit Elektro- und Industrial-Sounds und deutschen Texten. Sie sind auf ihrer "Ewiges Eis"-Tour, benannt nach ihrem gleichnamigen, aktuellen 2018er-Best-Of-Doppelalbum zum 15-jährigen Bandjubiläum - und stecken voller Energie und Spielfreude. Es wird ein energiegeladenes, schweißtreibendes zweistündiges Konzert, bei dem das 2003 gegründete Power-Quintett dauerhaft Volle-Kraft-Voraus spielt und dabei einen großen Querschnitt durch sein gesamtes Repertoire liefert. Der Eisbrecher-Sound ist kraftstrotzend, druckvoll, satt und laut (Bass und Bass-Drum gehen durch den ganzen Körper), aber trotzdem transparent. Die Halle bebt. Blickfang auf der Bühne ist das über zwei Meter hohe aluminium-farbene Drum-Podest, auf dem Schlagzeuger Achim thront und sein Set knallhart bearbeitet. Auch die vor dem Jalousien-artigen Hintergrund beleuchtete Showtreppe mit zweiter höherer Ebene fehlt nicht. All das eingetaucht in tolles kräftiges Licht, oft in klaren Farben (blau, grün, gelb, rot), die immer wieder durchbrochen werden durch ultra-schnelle Lichtkegel-Wechsel, Staccato-Licht, vom Drum-Podest fliessendes Trockeneis und plötzlich emporschießende vertikale Rauchfontainen. Eisbrecher präsentieren sich mit einer in sich stimmigen, hochdynamischen und mitreissenden Klasse-Show. Wesselsky ist begeistert: "Lasst euch anschauen!" und "Besucherrekord auf dieser Tour hier in Hannover. Danke!". Er spricht oft und locker zu den Fans. Später geht er sogar zu ihnen und lässt sie ins Mikro singen. Die eindringlichen (sozialkritischen, dunkel-düsteren, für manche auch verstörenden) Songtexte zur wuchtigen Musik handeln vom Fehlermachen ("Fehler machen Leute"), von Beziehungen (Verführung: "Antikörper"), Liebe, Fatalismus ("So oder so"), Seelenzuständen (wie Auto-Aggression: "Leider"), menschlichen Abgründen, Gewalt ("Amok"), vom Umgang mit der Welt ("Phosphor"), von Fortschritt ("Prototyp"), Leben ("Eiszeit") und Tod. Und immer wieder Besonderheiten: Bei "Amok" trommeln die Musiker auf innen beleuchteten "Ölfässern" (Musik aus dem "Off"). Bei "Eiszeit" schneit es auf der Bühne, wobei "Alexx", mit Mütze und Mantel im Takt zwei Eispickel gegeneinanderschlägt. Und bei "Himmel, Arsch und Zwirn" platzt die "Papierschnipsel-Bombe". Arme hoch, Arme-Schwenken, Mitsingen. Auch beim von Alexx' eingestreuten "Biene Maja-Lied", an das die Band ihre selbstkritische und 'unheimliche Nationalnothymne' "This is deutsch" anfügt. Riesenjubel. "Dafür machen wir das!", sagt Alexx und deutet auf seine Gänsehaut. Dann die Zugaben, der Eisbrecher pflügt weiter: "Verrückt", "Was ist hier los?" und bei "Miststück" performt er auch gekonnt im Falco-Stil. Mit der Power-Hymne "Herzdieb", da leuchten die Feuerzeuge, ist dann Ende. Die Band verschwindet durch die Tür im Drum-Podest. Mit dem eingespielten Freddy Quinn-Klassiker "Junge, komm bald wieder" zeigen sich die Jungs noch einmal. Ein Konzertereignis. Im Vorprogramm traten Faelder auf, keine Unbekannten: Keyboarder Henning Verlage ("Unheilig"), von den Mittelalter-Rock-Pionieren In Extremo Gitarrist Sebastian Lange und Drummer Florian "Specki T.D." Speckardt, Bassist Adrian Kehlbacher und Sänger Kai Niemann ("Im Osten"). Die stellten Ihr 2018er-Debütalbum "Unheilbar" vor - und überzeugten mit dem Albumtitelsong "Unheilbar", "Wo ist das Meer" und "Licht von dir" mit ihrem Mix aus kraftvollem Rock und hymnischem Dark-Pop. (Text: Christian Seibt / sei) (Geschrieben am: 05.05.2019) (Bewertung: 5/5 Sterne)
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Journalistische Auftragsarbeiten [Leseprobe 4]

Tolle Abschieds-Show mit Dudelsäcken, Schottenröcken und Gänsehautwellen

HANNOVER. Diese Show wird es so nicht mehr geben! Die beliebte Music Show Scotland ist nach 15 erfolgreichen Jahren in Europa auf ihrer finalen Tournee. Nach Hannover stehen nur noch Rotterdam, München, Mannheim, Berlin, Antwerpen und Oberhausen auf dem Tourplan. Dann wird sie vom Veranstalter Beerten Events mit neuem Konzept im holländischen Borculo - der Heimat der Music Show Scotland - verortet. So soll ein eigenes Veranstaltungszentrum namens "The Castle" errichtet werden, mit einem Konzertsaal mit über 3000 Plätzen.
Für die die geplanten neuen Shows sollen dann die Menschen nach Borculo reisen. Doch bevor es soweit ist, genießen am Samstagabend die 5000 Zuschauer in der vollen TUI-Arena den über dreieinhalbstündigen irisch-schottischen Abend (mit einer Pause). Die aufwendige Show, sie gilt als eine der größten Indoor-/Hallen-Musikproduktionen, gastiert bereits zum siebten, und nun zum letzten Mal in Hannover. 200 Akteure - Piper, Drummer, SängerInnen, MusikerInnen, Tänzerinnen - aus vielen Nationen (Belgien, Deutschland, England, Niederlande, Schottland...) sind dabei. Allein 120 Dudelsackspieler und Drummer in ihren prächtigen Kilts. Diverse Pipe-and-Drum-Gruppen sorgen für besondere Gänsehaut-Momente. Darunter die Highland Valley Pipes and Drums (Borculo/Niederlande), die Alba Pipe Band (Hildesheim/Deutschland), die Red Hackle Pipe Band (Belgien), The Clan MacBeth Pipe Band (Groningen/Niederlande), De City of Apeldoorn Pipes and Drums (Apeldoorn/Niederlande) und die Beatrix Pipe Band Hilversum (Hilversum/Niederlande). Klasse auch das mit Verve spielende 35-köpfige Orchester, mit Trommeln und anderen irisch-schottischen Instrumenten, Streich- und Blasinstrumenten, gemischtem Chor (gleichzeitig Solisten) - inklusive der "Castle Band" (Keyboards, Gitarren, Bass, Schlagzeug). Auch wieder dabei: die quirlige niederländische Irish-Folk-Gruppe Harmony Glen. Plus die 45 jungen Tänzerinnen namens Mainland European Highland Dancers. Geschichtliche Hintergründe zur Musik und zur schottischen und irischen Kultur, auch mit Witz, gibt Moderator Helmut Jäger. All das unter der musikalischen Leitung von Hans Beerten. Und vor und in der imposanten Kulisse einer Burganlage: die 40 Meter breite und 15 Meter hohe Nachbildung des Highland Valley Castle in Schottland - in der auch immer wieder Dudelsackspieler und Trommler auftreten. Die Klänge dieser Show gehen durch Mark und Bein. Gänsehaut. Denn, wenn die 120 Dudelsackspieler (Pipes) und Trommler (Drums), vereinigt als ein großer Klangkörper, loslegen, entsteht ein ungemein kompakter Sound. Mit fast hypnotischer Wirkung. Ein sattes Hörerlebnis, das alle auch physisch spüren. Und wenn sich diese Masse an Musikern - die "Massed Pipes and Drums", geleitet vom Pipe Major und dem Drum Major - in ihren traditionellen Kilts (den knielangen Schottenröcken mit den Tartans/Schottenmustern) auch noch in perfektem Gleichschritt in Bewegung setzt und in verschiedensten Formationen durch den gesamten Halleninnenraum marschiert, dann fesselt das noch zusätzlich. Faszinierend, wie die Paraden mit In-Reihe-Märschen, geometrischen Figuren, Reihenaufstellungen präsentiert werden. Beeindruckend auch die Koordination: exakt Marschieren und dabei exakt Musizieren. Eine Top-Leistung. Profis, Semiprofis, ambitionierte Amateure begeistern das Publikum mit Musik, Marschieren und Tänzen. Liebhaber der Dudelsack-Musikklänge und der irisch-schottischen Musik und Folklore kommen hier voll auf ihre Kosten. Und so erklingen viele legendäre Liedklassiker, die berühren, wie "When the pipers play" und "Highland Cathedral", die heimliche Hymne der Schotten. Musikalisch abwechslungsreich, ein Mix aus Tradition und Moderne, gespielt in unterschiedlichen Besetzungen: Neben traditioneller Musik ("Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus"...) und schönen Versionen von "Amazing Grace" und "The parting glass", gibt es auch prima Pop-Klassiker, oft mit allen Musikern und Sängern, wie das mitreißende "Music was my first love" (John Miles) und das wundervolle "Hallelujah" von Leonard Cohen. Exzellent auch die Filmmusiktitel-Versionen, wie "Gabriel's Oboe" (aus "The Mission"; Musik: Ennio Morricone) und "The Last of the Mohicans" (aus "Der letzte Mohikaner"; Musik: Trevor Jones, Randy Edelman). Schön der "Schottische Schwerter-Tanz" bei dem leichtfüßig um und über die auf dem Boden liegenden Waffen getanzt wird. Auch gibt es Auszüge aus der irischen Welterfolg-Stepptanzshow "Lord of the Dance" (mit "Jiggs" und "Wheels"). Spitze dann das fesselnde Tenor-Drum-Gruppen-Trommelsolo, mit atemberaubenden Drum-Schlägel-Choreografien, sogar bei Schwarzlicht (Klasse Effekt). Viel Jubel, Mitklatschen, Zwischenapplaus und Fußtrappeln. Und bei der Zugabe mit "Chariots of Fire" (gleichnamiger Film; Musik: Vangelis), gibt es zum Abschied mehrere laute Salven aus Räder-Kanonen. Eine kurzweilige, klangfarbenreiche und in stimmungsvolles Licht gesetzte Show. Am Ende stehende Ovationen. (Text: Christian Seibt / sei) (Geschrieben am: 01.03.2020) (Bewertung: 4/5 Sterne)
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Journalistische Auftragsarbeiten [Leseprobe 5]

Hochspannende und bewegende Lesung: Navid Kermani und seine Reise nach Osten

HANNOVER. "Manches versteht man erst, wenn man reist - nicht, wenn man bleibt", sagt Navid Kermani im ausverkauften Schauspielhaus. Kermani, der mit zahlreichen renommierten Kultur- und Literaturpreisen ausgezeichnete deutsche Schriftsteller, Publizist und habilitierte Orientalist mit persisch-iranischen Wurzeln, kam auf Einladung des Staatstheaters Hannover und dem Literaturhaus Hannover und las aus seinem jüngst erschienenen Buch "Entlang den Gräben – Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan". Musikalisch begleitet wurde er dabei von der ukrainischen Sängerin, Komponistin und Schauspielerin Mariana Sadovska.
Kermanis Buch, es entstand im Auftrag des 'Spiegel', ist mehr als ein aktueller Reisebericht, denn es reflektiert hochgradig auch die geschichtlichen Ereignisse und historischen Gegebenheiten in lebendiger Weise. Kerami, 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, nimmt die ihm gebannt folgenden 600 Zuhörer mit auf seine Reise. Die unternahm er in Etappen, mit zeitlichen Unterbrechungen - 54 Reisetage in 14 Monaten - von seiner Heimatstadt Köln aus durch den Osten Europas, mit dem Baltikum bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern. Lebendig liest er Passagen seiner Erlebnisse aus Litauen, Weissrussland, dem nach wie vor umstrittenen Berg-Karabach, Armenien, Isfahan. Im Gespräch mit Moderator Ulrich Kühn (NDR Kultur) macht er auch Abstecher nach Aserbaidschan und zum Kaukasus ("50 Täler, 50 Ethnien"). Das alles ist hochinteressant, informativ, spannend und bewegend. Da tut die wundervolle, eindringliche Musik von Sadovska mit ihrem indischen Harmonium gut. Ihr innig-leidenschaftlicher, oft kehliger Gesang mit warmen Timbre zur kontemplativen und bewegten Musik, passt hervorragend. So wie das Lied aus der Nord-Ukraine, dass vom "aufmerksamen, bewussten Leben" handelt. Ihre Musik hilft, die vielfältigen Eindrücke von Kermanis atmosphärisch-detaillierten Ausführungen zu verarbeiten. Die gehen oft unter die Haut: Kermani reiste in die Gebiete der "Bloodlands" (Begriff nach Timothy Snyder, Professor für Geschichte an der Yale University), wo im Zweiten Weltkrieg die Juden vernichtet wurden, wo Wehrmacht und SS ganze Landstriche in Weissrussland entvölkerten, entlang dem "Riss zwischen Ost und West", entlang den Gräben, die in Europa neu entstanden sind. Er schreibt über Begegnungen mit Zeitzeugen, schildert Pogrome in Litauen und lässt durch seine Sprache diese Zeit und die furchtbaren Ereignisse lebendig werden. Erschütternd seine Schilderung der Gedenkstätte Paneriai (ehemaliger Massenerschießungsort, Litauen), wo er die "Geister der Ermordeten"förmlich spürt. Ebenso sein Weissrussland-Kapitel (Stalins Aushungern-lassen von über 3 Millionen Menschen, trotz guter Ernte). Zwischendurch spricht er mit Kühn und Sadovska über die Erinnerungskulturen in Ost und West. Dann liest und erzählt er weiter: über die nach Osten gerückte Mitte Europas, die Einstellungen der Menschen in Osteuropa zu Europa (die Älteren nehmen es kaum wahr, die jungen Leute glauben an Europas Versprechungen), die unterdrückten Kulturen, Polens Nationalismus (nationale Wiedererlangung nach der leidvollen Geschichte), Oligarchen, Ost-Ukraine (Krieg und Chaos). Zum Lese-Ausschnitt Isfahan (iranische Wüstenstadt) kritisiert er den Verlust der seit Jahrhunderten beherrschten Kunst der Wasserverteilung (ausgetrockneter Fluss) - und amüsiert mit der Geschichte der jungen iranischen Reitlehrerin, die mit selbstbewusstem Ton den älteren Reitschüler-Männern Anweisungen gibt, was früher undenkbar war. "Auch Grenzen können schön sein!", sagt Kermani. Sie seien nicht grundsätzlich schlecht, meint er. Sie stehen für Unterschiede und Anderes und können spannend und anregend sein, wenn Kulturaustausch stattfindet. Es soll auch nicht alles gleich sein, findet er. Wichtig für Vielfalt und Unterschiede sind - Frieden und Toleranz, davon ist er überzeugt. Dem kann man nur zustimmen. Nach fast zwei Stunden, kräftiger Applaus. Ein eindrucksvoller, bewegender und nachwirkender Abend. (Text: Christian Seibt / sei) (Geschrieben am: 25.02.2018) (Bewertung: 4/5 Sterne)
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Freie journalistische Arbeiten [Leseprobe]

Live Music Now-Konzert in der Psychiatrie – Ein Erfahrungsbericht von Christian Seibt

HANNOVER/LANGENHAGEN. Es ist ein dunkelgrauer, ungemütlicher Dezembertag, aber dieses Duo zaubert Sonne in die Herzen seiner Zuhörer. Pianist Daniel Rudolph und Bass-Sänger Yannick Spanier, beide Jahrgang 1990, fesseln mit ihrem einstündigen Konzert ihr Publikum, das ein Besonderes ist. Es sitzt in keinem ehrwürdigen Konzertsaal, auch in keinem geschmückten Festsaal und auch nicht in einer Kirche, die ihren sakralen Raum für Musikdarbietungen geöffnet hat. Das Publikum hat bequeme Kleidung, teilweise Freizeitkleidung an und blickt auf die beiden Künstler, die auf keiner Bühne, auf keinem Podium stehen, und die auch nicht mit ausgefeiltem Bühnenlicht in Szene gesetzt werden. Nein, der Getränke-Automat brummt sobald die Kühlung wieder einsetzt, die automatischen Türen klacken nach dem Türsummer und geben beim Öffnen ein längeres Wisch-Geräusch ab, um Personen durchzulassen - deren Schritte, je nach Schuhwerk, hallen, klackern oder diese Gummisohlen-Abziehgeräusche verursachen.
Da rascheln Winterjacken und knistern Papier- und Plastiktragetaschen im Vorbeigehen, da gibt es Gesprächsausschnitte, die vielleicht gedämpft werden - "weil da 'was ist" - und da rollt der Servicewagen, wie der von der Reinigungskraft, vorbei. "Das, was da ist", sind die beiden musizierenden Künstler Rudolph und Spanier, die sich während ihres Vortrages ebenerdig auf einer Art Platz befinden, der zugleich ein Kreuzungspunkt von drei Gängen ist. Zwei Gänge sind durch eine Komplett-Verglasung miteinander verbunden, die großzügig den Blick auf eine parkartige Grünfläche frei gibt. Auch hier eine Tür, die immer mal wieder frequentiert wird. Das schöne alte, schwarze Klavier steht seitlich von ihr. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich das Café "ConTakt" mit besetzter Theke, Bistro-Tischen und Stühlen - und besagtem Getränke-Automaten. Dieses Café befindet sich jedoch nicht in einer überdachten Fußgängerzone, auch nicht in einem Erlebnis-Shopping-Center, sondern in der KRH Psychiatrie Langenhagen, Rohdehof 3. Alle Plätze sind besetzt. Im breiten Gang gegenüber dem Café, an der Wand, stehen ausnahmsweise weitere Stühle, auch sie, alle besetzt. Kommt jemand vorbei, stellt er sich einfach dazu. Gut 40 Zuhörer lauschen der Musik. Es sind hauptsächlich stationäre und teil-stationäre Patienten (Tages-Klinik), aber auch Klinik-Personal, das mal länger zuhören kann oder nur ein bisschen, weil es weiterarbeiten muss. Sogar die Klinikleitung kann sich (etwas) Zeit nehmen für die musikalische Darbietung, ein Liederkonzert von Klassik bis Musical. Mit einem flott-fröhlichen Ständchen aus Neapel beginnt es, gefolgt von der "Arie des Sarastro" aus Mozarts "Zauberflöte". Beides klingt wunderbar: Rudolph und Spanier harmonieren musikalisch sehr gut miteinander. Alle Zuhörer lauschen gebannt. Dass hier schöne Musik live erklingt, ist dem Verein Live Music Now Hannover, zu verdanken, der Musik dort hinbringt, wo jene Menschen sind, die aufgrund ihrer Lebensumstände dauerhaft oder zeitweise nicht ins Konzert gehen können - wie Menschen, die in Altenheimen, Krankenhäusern, Strafanstalten, Waisenhäusern, Hospizen oder in anderen sozialen Einrichtungen leben - oder wie hier, die in der Psychiatrie sind. Alle Künstler, die bei diesen speziellen Konzerten mitwirken, sind junge hochbegabte Stipendiaten von Live Music Now Hannover e. V. Es sind besonders hochqualifizierte Musikstudenten der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, die zuvor von einer Jury aus Professoren nach strengen Kriterien für die Stipendien ausgewählt wurden. Die von dem Jahrhundertgeiger und Weltbürger Lord Yehudi Menuhin entwickelte Live Music Now-Idee der kostenlosen Konzerte, die ausschließlich aus Spenden und durch Benefizkonzerte finanziert, von ehrenamtlich tätigen Mitgliedern organisiert und von jungen, engagierten, am Beginn ihrer Karriere stehenden Talenten dargeboten werden - hier ist sie nun direkt erlebbar. Es ist schön und anrührend zugleich, wie gut das exzellente, anspruchsvolle musikalische Programm und die locker präsentierten Erläuterungen dazu (Themen, Inhalt, Handlung...) bei den Patienten ankommen. Wie sie sich auf die Musik einlassen, ihr interessiert folgen, sich daran erfreuen, sie genießen - und davon berührt sind. Obwohl so mancher Patient darunter ist, der sonst eher selten klassische Musik hört. Doch Rudolph und Spanier schaffen es von Anbeginn eine Wohlfühl-Atmosphäre zu zaubern. Ihr Vortrag fesselt alle. Sogar bei den Kunstlied-Stücken aus Schuberts "Winterreise", die durchaus keine leichte Kost sind. Mutig. Aber "Der Lindenbaum", "Wasserfluth", "Frühlingstraum", "Die Nebensonnen", "Der Leiermann" werden so innig, spannungsvoll und mitreißend vorgetragen, dass diese wundervollen Werke ebenfalls hervorragend ankommen. Wunderbar der warme, runde Bass von Spanier, ebenso das einfühlsame Spiel von Rudolph. Die beiden lassen sich nicht vom Tagesbetrieb stören, Patienten, Personal und Besucher gehen vorbei oder bleiben stehen. Einige kommen von draußen herein. Flurgeräusche. Klinik-Alltag halt. Nach der "Winterreise" endet das Konzert. Keiner von den Patienten ist gegangen (was schon mal aus unterschiedlichsten Gründen passieren kann). Es gibt langen, begeisterten Applaus. Gerne geben die beiden eine Zugabe. "Wenn Sie noch können", sagt eine Patientin mit leuchtenden Augen. Sie können. Rudolph fasziniert mit seinem solistischen Spiel bei "Golliwoggs Cake-walk" aus dem Werk "Children's Corner ('Kinderecke'): Kleine Suite für Klavier allein" von Claude Debussy. Danach gibt es eine prima Version von "Wenn ich einmal reich bin" (Lied des Tevje), aus dem Musical "Anatevka", schön beschwingt-fröhlich, augenzwinkernd. Und mit dem Crooner-Titel: "Fly me to the Moon" von Bart Howard klingt das Konzert endgültig aus. "Könnte noch weiter gehen!", sagt ein Patient. Wieder kräftiger Applaus. Dabei übergibt ein anderer Patient, stellvertretend für alle, den beiden Musikern zum Dank jeweils eine rote Rose. Eine schöne Geste. Die beiden Künstler freuen sich. Weitere Patienten gehen zu den Musikern und bedanken sich. "Es war wunderschön", sagt ein Patient. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen. Für die Menschen hier vor Ort ist das Konzert eine schöne Abwechslung. Gut alle zwei Monate findet in diesem Rahmen ein Konzert von Live Music Now Hannover statt. Doch beinahe wäre dieses Konzert ausgefallen: Geplant war das Konzert mit Daniel Rudolph und den Sängerinnen Ylva Stenberg (Sopran) und Marlene Gaßner (Mezzosopran), aber beide erkrankten kurz vor dem Konzerttermin. Man konnte Yannick Spanier, der seit der Spielzeit 2017/18 ein Anfänger-Engagement als Bass-Solist an der Staatsoper Hannover innehat, gewinnen. In Windeseile erarbeiteten Rudolph und Spanier ein gemeinsames Programm. Das hat bestens funktioniert, so dass das geplante Konzert stattfinden konnte. Klasse Engagement, dass zugleich auch ein Beleg dafür ist, geplante Konzerte möglichst immer durchzuführen – selbst wenn neue Besetzungen und neue Musikprogramme kurzfristig notwendig werden. Denn, die Menschen, für die gespielt wird, freuen sich auf die jungen Musiktalente, auf die Musik. Frau Dr. Ulrike Fontaine, ehrenamtlich im Vorstand bei Live Music Now Hannover e.V., begleitete das Konzert für den Verein in der Psychiatrie Langenhagen organisatorisch - es ist eines von über 200 im Jahr, in mehr als 60 sozialen Einrichtungen - und betreute auch die Künstler. Nach jedem Konzert gibt es eine Nachbereitung in Form eines "Feedback"-Gesprächs-Bogens, bei dem Konzertbetreuer und Stipendiaten das Konzert besprechen und die Erfahrungen schriftlich fixieren: Kam das Musikprogramm an? Wurde das Publikum erreicht? Was sollte man ändern? Was war für die Akteure schwierig? ... Es passiert ja auch etwas mit den Künstlern, wenn sie in an besonderen Orten, wie diesem musizieren. Es sind immer - beeindruckende - Begegnungen... Lord Menuhins soziales Engagement der kostenlosen Konzerte, die Menschen mit sehr eingeschränktem Bewegungsradius Freude bringen und zugleich junge musikalische Talente fördern, trägt immer wieder Früchte. Seit er den Verein 1977 in England gründete - und der mittlerweile viele internationale Ableger hat. Allein in Deutschland sind es 20 Vereine, weitere existieren in Österreich (4 Vereine) und in der Schweiz (1 Verein). Und über allem schwebt der wundervolle Leitspruch Menuhins: "Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude". Das Konzert fand am 05.12.2017 von 14.30 - 15.30 Uhr statt. (Text von Christian Seibt, Hannover 2017/2018)
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